Betrachtung | Page 3

Franz Kafka
kennen, wie sie bei Nacht aus Seitenstraßen, die
Hände vorgestreckt, wie Gastwirte uns entgegentreten, wie sie sich um
die Anschlagsäule, bei der wir stehen, herumdrücken, wie zum
Versteckenspielen und hinter der Säulenrundung hervor zumindest mit
einem Auge spionieren, wie sie in Straßenkreuzungen, wenn wir
ängstlich werden, auf einmal vor uns schweben auf der Kante unseres
Trottoirs! Ich verstand sie doch so gut, sie waren ja meine ersten
städtischen Bekannten in den kleinen Wirtshäusern gewesen, und ich
verdankte ihnen den ersten Anblick einer Unnachgiebigkeit, die ich mir
jetzt so wenig von der Erde wegdenken konnte, daß ich sie schon in mir
zu fühlen begann. Wie standen sie einem noch gegenüber, selbst wenn
man ihnen schon längst entlaufen war, wenn es also längst nichts mehr
zu fangen gab! Wie setzten sie sich nicht, wie fielen sie nicht hin,
sondern sahen einen mit Blicken an, die noch immer, wenn auch nur
aus der Ferne, überzeugten! Und ihre Mittel waren stets die gleichen:
Sie stellten sich vor uns hin, so breit sie konnten; suchten uns
abzuhalten von dort, wohin wir strebten; bereiteten uns zum Ersatz eine
Wohnung in ihrer eigenen Brust, und bäumte sich endlich das
gesammelte Gefühl in uns auf, nahmen sie es als Umarmung, in die sie
sich warfen, das Gesicht voran.
Und diese alten Späße hatte ich diesmal erst nach so langem
Beisammensein erkannt. Ich zerrieb mir die Fingerspitzen an einander,
um die Schande ungeschehen zu machen.
Mein Mann aber lehnte hier noch wie früher, hielt sich noch immer für
einen Bauernfänger, und die Zufriedenheit mit seinem Schicksal rötete
ihm die freie Wange.
»Erkannt!« sagte ich und klopfte ihm noch leicht auf die Schulter.
Dann eilte ich die Treppe hinauf und die so grundlos treuen Gesichter
der Dienerschaft oben im Vorzimmer freuten mich wie eine schöne
Überraschung. Ich sah sie alle der Reihe nach an, während man mir den
Mantel abnahm und die Stiefel abstaubte. Aufatmend und langgestreckt
betrat ich dann den Saal.

Der plötzliche Spaziergang
Wenn man sich am Abend endgültig entschlossen zu haben scheint, zu
Hause zu bleiben, den Hausrock angezogen hat, nach dem Nachtmahl
beim beleuchteten Tische sitzt und jene Arbeit oder jenes Spiel
vorgenommen hat, nach dessen Beendigung man gewohnheitsgemäß
schlafen geht, wenn draußen ein unfreundliches Wetter ist, welches das
Zuhausebleiben selbstverständlich macht, wenn man jetzt auch schon
so lange bei Tisch stillgehalten hat, daß das Weggehen allgemeines
Erstaunen hervorrufen müßte, wenn nun auch schon das Treppenhaus
dunkel und das Haustor gesperrt ist, und wenn man nun trotz alledem
in einem plötzlichen Unbehagen aufsteht, den Rock wechselt, sofort
straßenmäßig angezogen erscheint, weggehen zu müssen erklärt, es
nach kurzem Abschied auch tut, je nach der Schnelligkeit, mit der man
die Wohnungstür zuschlägt, mehr oder weniger Ärger zu hinterlassen
glaubt, wenn man sich auf der Gasse wiederfindet, mit Gliedern, die
diese schon unerwartete Freiheit, die man ihnen verschafft hat, mit
besonderer Beweglichkeit beantworten, wenn man durch diesen einen
Entschluß alle Entschlußfähigkeit in sich gesammelt fühlt, wenn man
mit größerer als der gewöhnlichen Bedeutung erkennt, daß man ja mehr
Kraft als Bedürfnis hat, die schnellste Veränderung leicht zu bewirken
und zu ertragen, und wenn man so die langen Gassen hinläuft, -- dann
ist man für diesen Abend gänzlich aus seiner Familie ausgetreten, die
ins Wesenlose abschwenkt, während man selbst, ganz fest, schwarz vor
Umrissenheit, hinten die Schenkel schlagend, sich zu seiner wahren
Gestalt erhebt.
Verstärkt wird alles noch, wenn man zu dieser späten Abendzeit einen
Freund aufsucht, um nachzusehen, wie es ihm geht.

Entschlüsse
Aus einem elenden Zustand sich zu erheben, muß selbst mit gewollter
Energie leicht sein. Ich reiße mich vom Sessel los, umlaufe den Tisch,
mache Kopf und Hals beweglich, bringe Feuer in die Augen, spanne

die Muskeln um sie herum. Arbeite jedem Gefühl entgegen, begrüße A.
stürmisch, wenn er jetzt kommen wird, dulde B. freundlich in meinem
Zimmer, ziehe bei C. alles, was gesagt wird, trotz Schmerz und Mühe
mit langen Zügen in mich hinein.
Aber selbst wenn es so geht, wird mit jedem Fehler, der nicht
ausbleiben kann, das Ganze, das Leichte und das Schwere, stocken, und
ich werde mich im Kreise zurückdrehen müssen.
Deshalb bleibt doch der beste Rat, alles hinzunehmen, als schwere
Masse sich verhalten und fühle man sich selbst fortgeblasen, keinen
unnötigen Schritt sich ablocken lassen, den anderen mit Tierblick
anschaun, keine Reue fühlen, kurz, das, was vom Leben als Gespenst
noch übrig ist, mit eigener Hand niederdrücken, d. h., die letzte
grabmäßige Ruhe noch vermehren und nichts außer ihr mehr bestehen
lassen.
Eine charakteristische Bewegung eines solchen Zustandes ist das
Hinfahren des kleinen Fingers über die Augenbrauen.

Der Ausflug ins Gebirge
»Ich weiß nicht«, rief ich ohne Klang, »ich weiß ja nicht. Wenn
niemand kommt, dann kommt eben niemand. Ich habe niemandem
etwas Böses getan, niemand hat mir etwas Böses getan, niemand aber
will mir helfen. Lauter niemand. Aber so ist es
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