Betrachtung | Page 2

Franz Kafka
Luft werfen und wieder bestimmt in einen
noch tieferen Graben fallen. Und damit wollte man gar nicht aufhören.
Wie man sich im letzten Graben richtig zum Schlafen aufs äußerste
strecken würde, besonders in den Knien, daran dachte man noch kaum
und lag, zum Weinen aufgelegt, wie krank auf dem Rücken. Man
zwinkerte, wenn einmal ein Junge, die Ellbogen bei den Hüften, mit
dunklen Sohlen über uns von der Böschung auf die Straße sprang.
Den Mond sah man schon in einiger Höhe, ein Postwagen fuhr in
seinem Licht vorbei. Ein schwacher Wind erhob sich allgemein, auch
im Graben fühlte man ihn, und in der Nähe fing der Wald zu rauschen
an. Da lag einem nicht mehr soviel daran, allein zu sein.
»Wo seid Ihr?« -- »Kommt her!« -- »Alle zusammen!« -- »Was
versteckst Du Dich, laß den Unsinn!« -- »Wißt Ihr nicht, daß die Post
schon vorüber ist?« -- »Aber nein! Schon vorüber?« -- »Natürlich,
während Du geschlafen hast, ist sie vorübergefahren.« -- »Ich habe
geschlafen? Nein so etwas!« -- »Schweig nur, man sieht es Dir doch
an.« -- »Aber ich bitte Dich.« -- »Kommt!«
Wir liefen enger beisammen, manche reichten einander die Hände, den
Kopf konnte man nicht genug hoch haben, weil es abwärts ging. Einer
schrie einen indianischen Kriegsruf heraus, wir bekamen in die Beine
einen Galopp wie niemals, bei den Sprüngen hob uns in den Hüften der
Wind. Nichts hätte uns aufhalten können; wir waren so im Laufe, daß
wir selbst beim Überholen die Arme verschränken und ruhig uns

umsehen konnten.
Auf der Wildbachbrücke blieben wir stehn; die weiter gelaufen waren,
kehrten zurück. Das Wasser unten schlug an Steine und Wurzeln, als
wäre es nicht schon spät abend. Es gab keinen Grund dafür, warum
nicht einer auf das Geländer der Brücke sprang.
Hinter Gebüschen in der Ferne fuhr ein Eisenbahnzug heraus, alle
Coupées waren beleuchtet, die Glasfenster sicher herabgelassen. Einer
von uns begann einen Gassenhauer zu singen, aber wir alle wollten
singen. Wir sangen viel rascher als der Zug fuhr, wir schaukelten die
Arme, weil die Stimme nicht genügte, wir kamen mit unseren Stimmen
in ein Gedränge, in dem uns wohl war. Wenn man seine Stimme unter
andere mischt, ist man wie mit einem Angelhaken gefangen.
So sangen wir, den Wald im Rücken, den fernen Reisenden in die
Ohren. Die Erwachsenen wachten noch im Dorfe, die Mütter richteten
die Betten für die Nacht.
Es war schon Zeit. Ich küßte den, der bei mir stand, reichte den drei
Nächsten nur so die Hände, begann den Weg zurückzulaufen, keiner
rief mich. Bei der ersten Kreuzung, wo sie mich nicht mehr sehen
konnten, bog ich ein und lief auf Feldwegen wieder in den Wald. Ich
strebte zu der Stadt im Süden hin, von der es in unserem Dorfe hieß:
»Dort sind Leute! Denkt Euch, die schlafen nicht!«
»Und warum denn nicht?«
»Weil sie nicht müde werden.«
»Und warum denn nicht?«
»Weil sie Narren sind.«
»Werden denn Narren nicht müde?«
»Wie könnten Narren müde werden!«

Entlarvung eines Bauernfängers
Endlich gegen 10 Uhr abends kam ich mit einem mir von früher her nur
flüchtig bekannten Mann, der sich mir diesmal unversehens wieder
angeschlossen und mich zwei Stunden lang in den Gassen
herumgezogen hatte, vor dem herrschaftlichen Hause an, in das ich zu
einer Gesellschaft geladen war.
»So!« sagte ich und klatschte in die Hände zum Zeichen der
unbedingten Notwendigkeit des Abschieds. Weniger bestimmte
Versuche hatte ich schon einige gemacht. Ich war schon ganz müde.
»Gehn Sie gleich hinauf?« fragte er. In seinem Munde hörte ich ein
Geräusch wie vom Aneinanderschlagen der Zähne.
»Ja.«
Ich war doch eingeladen, ich hatte es ihm gleich gesagt. Aber ich war
eingeladen, hinaufzukommen, wo ich schon so gerne gewesen wäre,
und nicht hier unten vor dem Tor zu stehn und an den Ohren meines
Gegenübers vorüberzuschauen. Und jetzt noch mit ihm stumm zu
werden, als seien wir zu einem langen Aufenthalt auf diesem Fleck
entschlossen. Dabei nahmen an diesem Schweigen gleich die Häuser
rings herum ihren Anteil, und das Dunkel über ihnen bis zu den Sternen.
Und die Schritte unsichtbarer Spaziergänger, deren Wege zu erraten
man nicht Lust hatte, der Wind, der immer wieder an die
gegenüberliegende Straßenseite sich drückte, ein Grammophon, das
gegen die geschlossenen Fenster irgendeines Zimmers sang, -- sie
ließen aus diesem Schweigen sich hören, als sei es ihr Eigentum seit
jeher und für immer.
Und mein Begleiter fügte sich in seinem und -- nach einem Lächeln --
auch in meinem Namen, streckte die Mauer entlang den rechten Arm
aufwärts und lehnte sein Gesicht, die Augen schließend, an ihn.
Doch dieses Lächeln sah ich nicht mehr ganz zu Ende, denn Scham
drehte mich plötzlich herum. Erst an diesem Lächeln also hatte ich

erkannt, daß das ein Bauernfänger war, nichts weiter. Und ich war doch
schon Monate lang in dieser Stadt, hatte geglaubt, diese Bauernfänger
durch und durch zu
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