Ausgewählte Fabeln | Page 6

Gotthold Ephraim Lessing
Wolf und kam zu einem dritten Sch?fer.
"Es geht mir recht nahe", sprach er, "da? ich unter euch Sch?fern als das grausamste, gewissenloseste Tier verschrien bin. Dir, Montan, will ich jetzt beweisen, wie unrecht man mir tut. Gib mir j?hrlich ein Schaf, so soll deine Herde in jenem Walde, den niemand unsicher macht als ich, frei und unbesch?digt weiden dürfen. Ein Schaf! Welche Kleinigkeit! K?nnte ich gro?mütiger, k?nnte ich uneigennütziger handeln?--Du lachst, Sch?fer? Worüber lachst du denn?"
"Oh, über nichts! Aber wie alt bist du, guter Freund?" sprach der Sch?fer.
"Was geht dich mein Alter an? Immer noch alt genug, dir deine liebsten L?mmer zu würgen."
"Erzürne dich nicht, alter Isegrim! Es tut mir leid, da? du mit deinem Vorschlage einige Jahre zu sp?t kommst. Deine ausgerissenen Z?hne verraten dich. Du spielst den Uneigennützigen, blo? um dich desto gem?chlicher n?hren zu k?nnen."
4.
Der Wolf ward ?rgerlich, fa?te sich aber doch und ging auch zu dem vierten Sch?fer. Diesem war eben sein treuer Hund gestorben, und der Wolf machte sich den Umstand zunutze.
"Sch?fer", sprach er, "ich habe mich mit meinen Brüdern in dem Walde veruneinigt und so, da? ich mich in Ewigkeit nicht wieder mit ihnen auss?hnen werde. Du wei?t, wieviel du von ihnen zu fürchten hast! Wenn du mich aber anstatt deines verstorbenen Hundes in Dienste nehmen willst, so stehe ich dir dafür, da? sie keines deiner Schafe auch nur scheel ansehen sollen."
"Du willst sie also", versetzte der Sch?fer, "gegen deine Brüder im Walde beschützen?"
"Was meine ich denn sonst? Freilich."
"Das w?re nicht übel! Aber, wenn ich dich nun in meine Horden einn?hme, sage mir doch, wer sollte alsdann meine armen Schafe gegen dich beschützen? Einen Dieb ins Haus nehmen, um vor den Dieben au?er dem Hause sicher zu sein, das halten wir Menschen--"
"Ich h?re", sagte der Wolf, "du f?ngst an zu moralisieren. Lebe wohl!"
5.
"W?re ich nicht so alt!" knirschte der Wolf "Aber ich mu? mich leider in die Zeit schicken." Und so kam er zu dem fünften Sch?fer.
"Kennst du mich, Sch?fer?" fragte der Wolf.
"Deinesgleichen wenigstens kenne ich", versetzte der Sch?fer.
"Meinesgleichen? Daran zweifle ich sehr. Ich bin ein so sonderbarer Wolf, da? ich deiner und aller Sch?fer Freundschaft wohl wert bin."
"Und wie sonderbar bist du denn?"
"Ich k?nnte kein lebendiges Schaf würgen und fressen, und wenn es mir das Leben kosten sollte. Ich n?hre mich blo? mit toten Schafen. Ist das nicht l?blich? Erlaube mir also immer, da? ich mich dann und wann bei deiner Herde einfinden und nachfragen darf, ob dir nicht--"
"Spare der Worte!" sagte der Sch?fer. "Du mü?test gar keine Schafe fressen, auch nicht einmal tote, wenn ich dein Feind nicht sein sollte. Ein Tier, das mir schon tote Schafe fri?t, lernt leicht aus Hunger kranke Schafe für tot und gesunde für krank ansehen. Mache auf meine Freundschaft also keine Rechnung und geh!"
6.
Ich mu? nun schon mein Liebstes daran wenden, um zu meinem Zweckc zu gelangen! dachte der Wolf und kam zu dem sechsten Sch?fer. "Sch?fer, wie gef?llt dir mein Pelz?" fragte der Wolf.
"Dein Pelz?" sagte der Sch?fer, "la? sehen! Er ist sch?n; die Hunde müssen dich nicht oft untergehabt haben."
"Nun, so h?re, Sch?fer; ich bin alt und werde es so lange nicht mehr treiben. Füttere mich zu Tode, und ich vermache dir meinen Pelz."
"Ei sieh doch!" sagte der Sch?fer, "kommst du auch hinter die Schliche der alten Geizh?lse? Nein, nein; dein Pelz würde mich am Ende siebenmal mehr kosten, als er wert w?re. Ist es dir aber ein Ernst, mir ein Geschenk zu machen, so gib mir ihn gleich jetzt." Hiermit griff der Sch?fer nach der Keule, und der Wolf floh.
7.
"O die Unbarmherzigen!" schrie der Wolf und geriet in die ?u?erste Wut. "So will ich auch als ihr Feind sterben, ehe mich der Hunger t?tet, denn sie wollen es nicht besser!" Er lief, brach in die Wohnungen der Sch?fer ein, ri? ihre Kinder nieder und ward nicht ohne gro?e Mühe von den Sch?fern erschlagen.
Da sprach der weiseste von ihnen: "Wir taten doch wohl unrecht, da? wir den alten R?uber auf das ?u?erste brachten und ihm alle Mittel zur Besserung, so sp?t uns erzwungen sie auch war, benahmen!"

Die Nachtigall und die Lerche
Was soll man zu den Dichtern sagen, die so gern ihren Flug weit über alle Fassung des gr??ten Teiles ihrer Leser nehmen? Was sonst, als was die Nachtigall einst zu der Lerche sagte: "Schwingst du dich, Freundin, nur darum so hoch, um nicht geh?rt zu werden?"

Die Pfauen und die Kr?he
Eine stolze Kr?he schmückte sich mit den ausgefallenen Federn der farbigen Pfaue und mischte sich kühn, als sie genug geschmückt zu sein glaubte, unter diese gl?nzenden V?gel der Juno. Sie ward erkannt, und schnell fielen die Pfaue mit scharfen Schn?beln auf sie, ihr den betrügerischen Putz auszurei?en.
"Lasset nach!" schrie sie endlich, "ihr habt nun alle das Eurige wieder." Doch die Pfaue, welche einige von den eigenen gl?nzenden Schwingfedern der Kr?he bemerkt hatten, versetzten: "Schweig, armselige
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