Ausgewählte Fabeln | Page 6

Gotthold Ephraim Lessing
satt, und du sollst mit mir recht wohl
zufrieden sein. Denn ich bin wirklich das zahmste, sanftmütigste Tier,
wenn ich satt bin."
"Wenn du satt bist? Das kann wohl sein", versetzte der Schäfer. "Aber
wann bist du denn satt? Du und der Geiz werden es nie. Geh deinen
Weg!"
2.
Der abgewiesene Wolf kam zu einem zweiten Schäfer.
"Du weißt, Schäfer", war seine Anrede, "daß ich dir das Jahr durch
manches Schaf würgen könnte. Willst du mir überhaupt jedes Jahr
sechs Schafe geben, so bin ich zufrieden. Du kannst alsdann sicher
schlafen und die Hunde ohne Bedenken abschaffen."
"Sechs Schafe?" sprach der Schäfer, "das ist ja eine ganze Herde!"
"Nun, weil du es bist, so will ich mich mit fünfen begnügen", sagte der
Wolf.
"Du scherzest, fünf Schafe! Mehr als fünf Schafe opfere ich kaum im
ganzen Jahre dem Pan."
"Auch nicht viere?" fragte der Wolf weiter; und der Schäfer schüttelte
spöttisch den Kopf.
"Drei?--Zwei?"
"Nicht ein einziges", fiel endlich der Bescheid, "denn es wäre ja wohl
töricht, wenn ich mich einem Feinde zinsbar machte, vor welchem ich
mich durch meine Wachsamkeit sichern kann."
3.
Aller guten Dinge sind drei, dachte der Wolf und kam zu einem dritten
Schäfer.
"Es geht mir recht nahe", sprach er, "daß ich unter euch Schäfern als
das grausamste, gewissenloseste Tier verschrien bin. Dir, Montan, will
ich jetzt beweisen, wie unrecht man mir tut. Gib mir jährlich ein Schaf,
so soll deine Herde in jenem Walde, den niemand unsicher macht als
ich, frei und unbeschädigt weiden dürfen. Ein Schaf! Welche
Kleinigkeit! Könnte ich großmütiger, könnte ich uneigennütziger
handeln?--Du lachst, Schäfer? Worüber lachst du denn?"
"Oh, über nichts! Aber wie alt bist du, guter Freund?" sprach der
Schäfer.

"Was geht dich mein Alter an? Immer noch alt genug, dir deine liebsten
Lämmer zu würgen."
"Erzürne dich nicht, alter Isegrim! Es tut mir leid, daß du mit deinem
Vorschlage einige Jahre zu spät kommst. Deine ausgerissenen Zähne
verraten dich. Du spielst den Uneigennützigen, bloß um dich desto
gemächlicher nähren zu können."
4.
Der Wolf ward ärgerlich, faßte sich aber doch und ging auch zu dem
vierten Schäfer. Diesem war eben sein treuer Hund gestorben, und der
Wolf machte sich den Umstand zunutze.
"Schäfer", sprach er, "ich habe mich mit meinen Brüdern in dem Walde
veruneinigt und so, daß ich mich in Ewigkeit nicht wieder mit ihnen
aussöhnen werde. Du weißt, wieviel du von ihnen zu fürchten hast!
Wenn du mich aber anstatt deines verstorbenen Hundes in Dienste
nehmen willst, so stehe ich dir dafür, daß sie keines deiner Schafe auch
nur scheel ansehen sollen."
"Du willst sie also", versetzte der Schäfer, "gegen deine Brüder im
Walde beschützen?"
"Was meine ich denn sonst? Freilich."
"Das wäre nicht übel! Aber, wenn ich dich nun in meine Horden
einnähme, sage mir doch, wer sollte alsdann meine armen Schafe gegen
dich beschützen? Einen Dieb ins Haus nehmen, um vor den Dieben
außer dem Hause sicher zu sein, das halten wir Menschen--"
"Ich höre", sagte der Wolf, "du fängst an zu moralisieren. Lebe wohl!"
5.
"Wäre ich nicht so alt!" knirschte der Wolf "Aber ich muß mich leider
in die Zeit schicken." Und so kam er zu dem fünften Schäfer.
"Kennst du mich, Schäfer?" fragte der Wolf.
"Deinesgleichen wenigstens kenne ich", versetzte der Schäfer.
"Meinesgleichen? Daran zweifle ich sehr. Ich bin ein so sonderbarer
Wolf, daß ich deiner und aller Schäfer Freundschaft wohl wert bin."
"Und wie sonderbar bist du denn?"
"Ich könnte kein lebendiges Schaf würgen und fressen, und wenn es
mir das Leben kosten sollte. Ich nähre mich bloß mit toten Schafen. Ist
das nicht löblich? Erlaube mir also immer, daß ich mich dann und
wann bei deiner Herde einfinden und nachfragen darf, ob dir nicht--"
"Spare der Worte!" sagte der Schäfer. "Du müßtest gar keine Schafe

fressen, auch nicht einmal tote, wenn ich dein Feind nicht sein sollte.
Ein Tier, das mir schon tote Schafe frißt, lernt leicht aus Hunger kranke
Schafe für tot und gesunde für krank ansehen. Mache auf meine
Freundschaft also keine Rechnung und geh!"
6.
Ich muß nun schon mein Liebstes daran wenden, um zu meinem
Zweckc zu gelangen! dachte der Wolf und kam zu dem sechsten
Schäfer. "Schäfer, wie gefällt dir mein Pelz?" fragte der Wolf.
"Dein Pelz?" sagte der Schäfer, "laß sehen! Er ist schön; die Hunde
müssen dich nicht oft untergehabt haben."
"Nun, so höre, Schäfer; ich bin alt und werde es so lange nicht mehr
treiben. Füttere mich zu Tode, und ich vermache dir meinen Pelz."
"Ei sieh doch!" sagte der Schäfer, "kommst du auch hinter die Schliche
der alten Geizhälse? Nein, nein; dein Pelz würde mich am Ende
siebenmal mehr kosten, als er wert wäre. Ist es dir aber ein Ernst, mir
ein Geschenk zu machen, so gib mir ihn gleich jetzt." Hiermit griff der
Schäfer nach der Keule, und der Wolf
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