Ausgewählte Fabeln | Page 5

Gotthold Ephraim Lessing
Nacht an
einer erhabenen Eiche bewiesen. Nun lag sie gestreckt, und eine Menge
niedriger Sträucher lagen unter ihr zerschmettert. Ein Fuchs, der seine
Grube nicht weit davon hatte, sah sie des Morgens darauf. "Was für ein
Baum!" rief er. "Hätte ich doch nimmermehr gedacht, daß er so groß
gewesen wäre!"

Die Eiche und das Schwein
Ein gefräßiges Schwein mästete sich unter einer hohen Eiche mit der
herabgefallenen Frucht. Indem es die eine Eichel zerbiß, verschluckte
es bereits eine andere mit dem Auge.
"Undankbares Vieh!" rief endlich der Eichbaum herab. "Du nährst dich
von meinen Früchten ohne einen einzigen dankbaren Blick auf mich in
die Höhe zu richten."
Das Schwein hielt einen Augenblick inne und grunzte zur Antwort:
"Meine dankbaren Blicke sollten nicht außen bleiben, wenn ich nur
wüßte, daß du deine Eicheln meinetwegen hättest fallen lassen."

Die Erscheinung
In der einsamsten Tiefe jenes Waldes, wo ich schon manches redende

Tier belauscht, lag ich an einem sanften Wasserfalle und war bemüht,
einem meiner Märchen den leichten poetischen Schmuck zu geben, in
welchem am liebsten zu erscheinen La Fontaine die Fabel fast
verwöhnt hat. Ich sann, ich wählte, ich verwarf, die Stirne
glühte--Umsonst, es kam nichts auf das Blatt. Voll Unwill sprang ich
auf; aber sieh!-- auf einmal stand sie selbst, die fabelnde Muse vor mir.
Und sie sprach lächelnd: "Schüler, wozu die undankbare Mühe? Die
Wahrheit braucht die Anmut der Fabel; aber wozu braucht die Fabel die
Anmut der Harmonie? Du willst das Gewürze würzen. G'nug, wenn die
Erfindung des Dichters ist; der Vortrag sei des ungekünstelten
Geschichtsschreibers, so wie der Sinn des Weltweisen."
Ich wollte antworten, aber die Muse verschwand. "Sie verschwand?"
höre ich einen Leser fragen. "Wenn du uns doch nur wahrscheinlicher
täuschen wolltest! Die seichten Schlüsse, auf die dein Unvermögen
dich führte, der Muse in den Mund zu legen! Zwar ein gewöhnlicher
Betrug-"
Vortrefflich, mein Leser! Mir ist keine Muse erschienen. Ich erzähle
eine bloße Fabel, aus der du selbst die Lehre gezogen. Ich bin nicht der
erste und werde nicht der letzte sein, der seine Grillen zu
Orakelsprüchen einer göttlichen Erscheinung macht.

Die Eule und der Schatzgräber
Jener Schatzgräber war ein sehr unbilliger Mann. Er wagte sich in die
Ruinen eines alten Raubschlosses und ward da gewahr, daß die Eule
eine magere Maus ergriff und verzehrte. "Schickt sich das", sprach er,
"für den philosophischen Liebling Minervens?"
"Warum nicht?" versetzte die Eule. "Weil ich stille Betrachtungen liebe,
kann ich deswegen von der Luft leben? Ich weiß zwar, daß ihr
Menschen es von euren Gelehrten verlanget--"

Die Furien
"Meine Furien", sagte Pluto zu dem Boten der Götter, "werden alt und
stumpf. Ich brauche frische. Geh also, Merkur, und suche mir auf der
Oberwelt drei tüchtige Weibspersonen dazu aus." Merkur ging.
Kurz darauf sagte Juno zu ihrer Dienerin: "Glaubtest du wohl, Iris,
unter den Sterblichen zwei oder drei vollkommen strenge, züchtige

Mädchen zu finden? Aber vollkommen strenge! Verstehst du mich?
Um Cytheren hohnzusprechen, die sich das ganze weibliche Geschlecht
unterworfen zu haben rühmt. Geh immer und sieh, wo du sie
auftreibst." Iris ging.--
In welchem Winkel der Erde suchte nicht die gute Iris! Und dennoch
umsonst! Sie kam ganz allein wieder, und Juno rief ihr entgegen: "Ist es
möglich? O Keuschheit! O Tugend!"
"Göttin", sagte Iris, "ich hätte dir wohl drei Mädchen bringen können,
die alle drei vollkommen streng und züchtig gewesen; die alle drei nie
einer Mannsperson gelächelt, die alle drei den geringsten Funken der
Liebe in ihren Herzen erstickt; aber ich kam, leider, zu spät."
"Zu spät?" sagte Juno. "Wieso?"
"Eben hatte sie Merkur für den Pluto abgeholt."
"Für den Pluto? Und wozu will Pluto diese Tugendhaften?"
"Zu Furien."

Die Gans
Die Federn einer Gans beschämten den neugeborenen Schnee. Stolz auf
dieses blendende Geschenk der Natur glaubte sie eher zu einem
Schwane als zu dem, was sie war, geboren zu sein. Sie sonderte sich
von ihresgleichen ab und schwamm einsam und majestätisch auf dem
Teiche herum. Bald dehnte sie ihren Hals, dessen verräterischer Kürze
sie mit aller Macht abhelfen wollte; bald suchte sie ihm die prächtige
Biegung zu geben, in welcher der Schwan das würdige Ansehen eines
Vogels des Apollo hat. Doch vergebens; er war zu steif, und mit aller
ihrer Bemühung brachte sie es nicht weiter, als daß sie eine lächerliche
Gans ward, ohne ein Schwan zu werden.

Die Geschichte des alten Wolfs
in sieben Fabeln
1.
Der böse Wolf war zu Jahren gekommen und faßte den gleißenden
Entschluß, mit den Schäfern auf einem gütlichen Fuß zu leben. Er
machte sich also auf und kam zu dem Schäfer, dessen Horden seiner
Höhle die nächsten waren.
"Schäfer", sprach er, "du nennst mich den blutgierigsten Räuber, der

ich doch wirklich nicht bin. Freilich muß ich mich an deine Schafe
halten, wenn mich hungert; denn Hunger tut weh. Schütze mich nur vor
dem Hunger; mache mich nur
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