Ausgewählte Fabeln | Page 4

Gotthold Ephraim Lessing
ward Richter.--"Noch ein Wort", rief ihm der
majestätische Löwe zu, "bevor du den Ausspruch tust! Nach welcher
Regel, Mensch, willst du unsern Wert bestimmen?"
"Nach welcher Regel? Nach dem Grade, ohne Zweifel", antwortete der
Mensch, "in welchem ihr mir mehr oder weniger nützlich seid."
"Vortrefflich!" versetzte der beleidigte Löwe. "Wie weit würde ich
alsdann unter dem Esel zu stehen kommen! Du kannst unser Richter
nicht sein, Mensch! Verlaß die Versammlung!"
3.

Der Mensch entfernte sich.--"Nun", sprach der höhnische Maulwurf,--
(und ihm stimmten der Hamster und der Igel wieder bei)--"siehst du,
Pferd? der Löwe meint es auch, daß der Mensch unser Richter nicht
sein kann. Der Löwe denkt wie wir."
"Aber aus besseren Gründen als ihr!" sagte der Löwe, und warf ihnen
einen verächtlichen Blick zu.
4.
Der Löwe fuhr weiter fort: "Der Rangstreit, wenn ich es recht überlege,
ist ein nichtswürdiger Streit! Haltet mich für den Vornehmsten oder
den Geringsten; es gilt mir gleichviel. Genug, ich kenne mich!"--Und
so ging er aus der Versammlung.
Ihm folgte der weise Elefant, der kühne Tiger, der ernsthafte Bär, der
kluge Fuchs, das edle Pferd; kurz alle, die ihren Wert fühlten oder zu
fühlen glaubten.
Die sich am letzten wegbegeben und über die zerrissene Versammlung
am meisten murrten, waren--der Affe und der Esel.

Der Sperling und der Strauß
"Sei auf deine Größe, auf deine Stärke so stolz wie du willst", sprach
der Sperling zu dem Strauße; "ich bin doch mehr ein Vogel als du.
Denn du kannst nicht fliegen, ich aber fliege, obgleich nicht hoch,
obgleich nur ruckweise."
Der leichte Dichter eines fröhlichen Trinkliedes, eines kleinen
verliebten Gesanges, ist mehr ein Genie, als der schwunglose Schreiber
einer langen Hermanniade.

Der Strauß
"Jetzt will ich fliegen!" rief der gigantische Strauß, und das ganze Volk
der Vögel stand in ernster Erwartung um ihn versammelt. "Jetzt will ich
fliegen", rief er nochmals, breitete die gewaltigen Fittiche weit aus und
schoß, gleich einem Schiffe mit aufgespannten Segeln, auf dem Boden
dahin, ohne ihn mit einem Tritte zu verlieren.
Sehet da ein poetisches Bild jener unpoetischen Köpfe, die in den
ersten Zeilen ihrer ungeheuren Oden mit stolzen Schwingen prahlen,
sich über Wolken und Sterne zu erheben drohen und dem Staube doch
immer getreu bleiben!

Der Wolf auf dem Todbette
Der Wolf lag in den letzten Zügen und schickte einen prüfenden Blick
auf sein vergangenes Leben zurück. "Ich bin freilich ein Sünder", sagte
er; "aber doch, ich hoffe, keiner von den größten. Ich habe Böses getan;
aber auch viel Gutes. Einstmals, erinnere ich mich, kam mir ein
blökendes Lamm, welches sich von der Herde verirrt hatte, so nahe,
daß ich es gar leicht hätte erwürgen können; und ich tat ihm nichts. Zu
eben dieser Zeit hörte ich die Spöttereien und Schmähungen eines
Scbafes mit der bewunderungswürdigsten Gleichgültigkeit an, ob ich
schon keine schätzenden Hunde zu fürchten hatte."
"Und alles kann ich dir bezeugen", fiel ihm Freund Fuchs, der ihn zum
Tode bereiten half, ins Wort. "Denn ich erinnere mich noch gar wohl
aller Umstände dabei. Es war zu eben der Zeit, als du dich an dem
Beine so jämmerlich würgtest, das dir der gutherzige Kranich hernach
aus dem Schlunde zog."

Der Wolf und der Schäfer
Ein Schäfer hatte durch eine grausame Seuche seine ganze Herde
verloren. Das erfuhr der Wolf und kam, seine Kondolenz abzustatten.
"Schäfer", sprach er, "ist es wahr, daß dich ein so grausames Unglück
betroffen? Du bist um deine ganze Herde gekommen? Die liebe,
fromme, fette Herde? Du dauerst, mich, und ich möchte blutige Tränen
weinen."
"Habe Dank, Meister Isegrim", versetzte der Schäfer. "Ich sehe, du hast
ein sehr mitleidiges Herz."
"Das hat er auch wirklich", fügte des Schäfers Hylax hinzu, "so oft er
unter dem Unglücke seines Nächsten selbst leidet."

Der hungrige Fuchs
"Ich bin zu einer unglücklichen Stunde geboren!" so klagte ein junger
Fuchs einem alten. "Fast keiner von meinen Anschlägen will mir
gelingen."--"Deine Anschläge", sagte der ältere Fuchs, "werden ohne
Zweifel doch klug sein. Laß doch hören, wann machst du deine
Anschläge?" "Wann ich sie mache? Wann anders, als wenn mich
hungert?" --"Wenn dich hungert?" fuhr der alte Fuchs fort. "Ja! da

haben wir es! Hunger und Überlegung sind nie beisammen. Mache sie
künftig, wenn du satt bist; und sie werden besser ausfallen."

Der junge und der alte Hirsch
Ein Hirsch, den die gütige Natur Jahrhunderte hat leben lassen, sagte
einst zu einem seiner Enkel: "Ich kann mich der Zeit noch sehr wohl
erinnern, da der Mensch das donnernde Feuerrohr noch nicht erfunden
hatte."
"Welche glückliche Zeit muß das für unser Geschlecht gewesen sein!"
seufzte der Enkel.
"Du schließest zu geschwind!" sagte der alte Hirsch. "Die Zeit war
anders, aber nicht besser. Der Mensch hatte da, anstatt des Feuerrohrs,
Pfeile und Bogen, und wir waren ebenso schlimm daran als jetzt."

Die Eiche
Der rasende Nordwind hatte seine Stärke in einer stürmischen
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