nun einmal sind, die Frage an Lassalle richtete:
ob er glaube, daß seine Pläne durchführbar seien, umarmte Lassalle sie
und drückte ihr mit den Worten: "Sie sind eine köstliche Frau" einen
Kuß auf die Lippen. Er schloß ihr also buchstäblich den Mund. Ueber
diese Verhöhnung aller gesellschaftlichen Etikette geriet der alte
Weißheimer dermaßen in Aufregung, daß er einige Sekunden nach
Atem schnappte, wohingegen die übrige Gesellschaft aus vollem Halse
lachte.
Die Wandlung in der Gesinnung Schweitzers unter dem Einfluß
Lassalles zeigte sich sofort deutlich in der Rede, die er am 13. Oktober
1863 in Leipzig unter dem Titel hielt: "Die Partei des Fortschritts als
Trägerin des Stillstandes". Diese Rede bezeichnet eine vollständige
Umwandlung seiner bisherigen Stellung zu Preußen, zugleich war sie
eine Rechtfertigung der Politik Lassalles und eine klare Stellungnahme
gegen den Liberalismus, was zu jener Zeit hieß eine Parteinahme für
Bismarck und die Feudalen. In jener Rede führt er unter anderem aus:
"Allein, meine Herren, wenn Sie meinem Vortrag gefolgt sind, so
werden Sie erkannt haben, daß zwar der moderne Absolutismus samt
seinen Adels- und Priesterkoterien uns feindlich gegenübersteht, da er
überhaupt von Neuerung nichts wissen will; allein, Sie werden zugleich
erkannt haben, daß unser eigentlicher, hartnäckiger und erbitterter
Feind wo ganz anders steckt--nämlich in der Bourgeoispartei und ihren
Vertretern. Es muß durchaus einmal offen und bestimmt ausgesprochen
werden, daß in der weitaus höchsten und wichtigsten Frage der Zeit der
wahre Sitz des Stillstandes in der sogenannten liberalen Partei liegt,
daß also unser, der sozialdemokratischen Partei Kampf in erster Linie
gegen sie gerichtet sein muß. Wenn Sie dies aber festhalten, meine
Herren, dann werden Sie sich selbst sagen: Warum hätte Lassalle sich
nicht an Bismarck wenden sollen?"
Nach dieser Theorie waren also nicht die Feudalen, denen jeder
politische und soziale Fortschritt ein Greuel war, die, um modern zu
reden, die heftigsten Verteidiger der gottgewollten Abhängigkeiten sind,
der Hauptfeind der Arbeiter, das waren vielmehr die Liberalen, von
denen selbst der am weitesten rechtsstehende Anhänger doch immer
noch ein Vertreter der modernen Entwicklung, ein Anhänger eines
gewissen Kulturfortschrittes ist, ohne den die kapitalistische Ordnung
nicht bestehen kann, die dem Proletarier erst die Möglichkeit schafft,
sich zum freien Menschen emporzuarbeiten, die Unterdrückung des
Menschen durch den Menschen zu beseitigen. Schweitzer wußte, daß
die von ihm gepredigte Auffassung eine grundreaktionäre war, ein
Verrat an den Interessen des Arbeiters, aber er propagandierte sie, weil
er glaubte, sich dadurch nach oben zu empfehlen.
Es verstand sich von selbst, daß Bismarck und die Feudalen eine solche
Hilfe von der äußersten Linken mit Vergnügen sich gefallen ließen und
den Vertreter einer solchen Auffassung eventuell auch unterstützten.
War doch dieses Spielen mit Sozialismus und Kommunismus--und kein
vernünftiger Mensch konnte annehmen, daß es sich um mehr als um ein
Spielen handle--ein vortreffliches Mittel, die liberale Bourgeoisie, die
nie an einem Uebermaß von Mut und Einsicht litt, ins Bockshorn zu
jagen und sie dem Bismarckschen Zäsarismus ins Garn zu treiben. Je
radikaler dieser Sozialismus sich gegen die Bourgeoisie aufspielte, je
mehr erfüllte er seinen Zweck. Daher auch die Aufforderung Buchers
an Marx--man muß dieses immer wiederholen--, im "Staatsanzeiger"
selbst kommunistisch zu schreiben.
Diese Politik war aber das gerade Gegenteil von Demokratie und
Sozialismus, was ich nicht erst zu beweisen nötig habe.
"Der Sozialdemokrat."
Schweitzer siedelte im Juli 1864 nach Berlin über und ließ sich dort
naturalisieren. Sein Zweck war, die Herausgabe eines Parteiorgans
"Der Sozialdemokrat" zu betreiben, wozu sein Freund v. Hofstetten,
der mit einer Gräfin Strachwitz verheiratet war und einiges Vermögen
besaß, die Mittel hergab. Auffallend ist, daß Lassalle in seinem
Testament keinen Pfennig für das von ihm gebilligte Unternehmen
anwies.
Schweitzer war es gelungen, trotz des Mißtrauens, das ein Teil der hier
Genannten gegen ihn hegte, außer Liebknecht Karl Marx, Friedrich
Engels, Oberst Rüstow, Georg Herwegh, Jean Philipp Becker, Fr.
Reusche, Moritz Heß und Professor Wuttke als Mitarbeiter zu
gewinnen, selbstverständlich auf ein radikales Programm, das
Schweitzer entworfen hatte, das sich durch Klarheit, Bestimmtheit und
Kürze auszeichnete. Dasselbe erschien an der Spitze der Probenummer
des "Sozialdemokrat" vom 15. Dezember 1864 und lautete:
Unser Programm.
Drei große Gesichtspunkte sind es, welche das Streben und die
Tätigkeit unserer Partei bestimmen:
Wir bekämpfen jene Gestaltungen des europäischen Staatensystems,
welche, unnatürlich die Völker trennend und verbindend, aus dem
feudalen Mittelalter in das neunzehnte Jahrhundert sich
herübergeschleppt haben--wir wollen fördern die Solidarität der
Völkerinteressen und der Volkssache durch die ganze Welt.
Wir wollen nicht ein ohnmächtiges und zerrissenes Vaterland, machtlos
nach außen und voll Willkür im Innern--das ganze, gewaltige
Deutschland wollen wir, den einen, freien Volksstaat.
Wir verwerfen die bisherige Beherrschung der Gesellschaft durch das
Kapital--wir hoffen zu erkämpfen, daß die Arbeit den Staat regiere.
Diese drei großen auf gemeinsamer Grundlage beruhenden
Gesichtspunkte weisen uns in jeder möglichen Frage mit zwingender
Notwendigkeit auf die Bahnen, die wir zu wandeln haben.
Unsere Prinzipien sind einfach und klar--ihre Konsequenzen zu ziehen
werden wir uns niemals scheuen.
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