Aus meinem Leben, Erster Teil | Page 9

August Bebel
8.
rheinische Armeekorps kommandierte, auf seiner Inspektionsreise auch
nach Wetzlar kam, wurde sein Wagen vor dem Tore mit Schmutz
beworfen. Ein Verwandter von mir, der sich bei einer Gelegenheit zum
Sturmläuten hatte fortreißen lassen, wurde mit drei Jahren
Zuchthaus bestraft. Für die Bürgerwehr, die in den
Bewegungsjahren auch in Wetzlar bestand, hatte ich nur ein Gefühl
der Geringschätzung, obgleich mehrere meiner Verwandten zu ihr
gehörten, und zwar wegen der mangelnden militärischen Haltung,
mit der sie ihre Uebungen vornahm. Mit der wiederkehrenden Reaktion
verschwand sie.
* * * * *
Das Jahr 1853 machte meinen Bruder und mich zu Waisen. Anfang

Juni starb meine Mutter. Sie sah ihrem Tode mit Heroismus entgegen.
Als sie am Nachmittag ihres Todestags ihr letztes Stündlein
herannahen fühlte, beauftragte sie uns, ihre Schwestern zu rufen.
Einen Grund dafür gab sie nicht an. Als die Schwestern kamen,
wurden wir aus der Stube geschickt. In trübseliger Stimmung
saßen wir stundenlang auf der Treppe und warteten, was kommen
werde. Endlich gegen sieben Uhr traten die Schwestern aus der Stube
und teilten uns mit, daß soeben unsere Mutter gestorben sei. Noch an
demselben Abend mußten wir unsere Habseligkeiten packen und den
Tanten folgen, ohne daß wir die tote Mutter noch zu sehen bekamen.
Die Aermste hatte wenig gute Tage in ihrem Ehe- und Witwenleben
gesehen. Und doch war sie immer heiter und guten Mutes. Ihr starben
binnen drei Jahren zwei Ehemänner, außerdem zwei Kinder,
außer meinem jüngsten Bruder eine Schwester, die vor mir
geboren worden war, die ich aber nicht gekannt habe. Mit uns zwei
Brüdern hatte sie wiederholt schwere Krankheitsfälle
durchzumachen. Ich erkrankte 1848 am Nervenfieber und schwebte
mehrere Wochen zwischen Leben und Tod. Einige Jahre danach
erkrankte ich an der sogenannten freiwilligen Hinke, kam aber mit
graden Gliedern davon. Mein Bruder stürzte, neun Jahre alt, beim
Spiel in einer Scheune von der obersten Leiterstufe auf die Tenne herab
und trug eine schwere Kopfwunde und eine Gehirnerschütterung
davon. Auch er entging nur mit genauer Not dem Tode. Meine Mutter
selbst litt mindestens sieben Jahre an der Schwindsucht. Mehr
Trübsal und Sorge konnten einer Mutter kaum beschieden sein.
Ich kam jetzt zu einer Tante, die eine Wassermühle in Wetzlar in
Erbpacht hatte, mein Bruder kam zu einer anderen Tante, deren Mann
Bäcker war. Ich mußte jetzt fleißig in der Mühle zugreifen.
Besonderes Vergnügen machte es mir, mit den beiden Eseln, die wir
besaßen, Mehl aufs Land zu den Bauern zu transportieren und
Getreide von ihnen in Empfang zu nehmen. Am liebsten aber war mir,
wenn ich nur wenig Getreide zum Rücktransport erhielt, dann konnte
ich auf einem der Esel nach der Stadt reiten. Das ließ sich auch unser
Schwarzer, der ein geduldiges Tier war, gefallen, aber unser Grauer,
der jung und feurig war, dachte anders. Er besaß offenbar so etwas
wie Standesbewußtsein, denn außer der gewohnten Last litt er

keine fremde auf seinem Rücken. Als ich aber doch eines Tages auf
seinem Rücken Platz genommen hatte, setzte er sich sofort in Trab,
steckte den Kopf zwischen die Vorderbeine und schlug mit den
Hinterbeinen nach Kräften aus. Ehe ich mich's versah, flog ich in
einem eleganten Bogen in den Straßengraben. Glücklicherweise
ohne mich zu verletzen. Er hatte seinen Zweck erreicht, ich ließ ihn
fortan in Ruhe.
Außer den beiden Eseln besaß meine Tante ein Pferd, mehrere
Kühe, eine Anzahl Schweine und mehrere Dutzend Hühner. Und
da sie auch Landwirtschaft betrieb, fehlte es nicht an Arbeit, obgleich
neben ihrem Sohn ein Müllerknecht — wie damals die Gesellen
genannt wurden — und eine Magd beschäftigt wurden. Hatte der
Knecht keine Zeit, so mußte ich Pferd und Esel putzen und
manchmal auch das Pferd in die Schwemme reiten. Die Sorge für
den Hühnerhof war mir ganz überlassen. Ich mußte die
Fütterung der Hühner besorgen, die Eier aus den Nestern nehmen
oder wohin sonst diese gelegt worden waren und den Stall reinigen. Mit
diesen Beschäftigungen kam Ostern 1854 heran. Es folgte meine
Entlassung aus der Schule, ein Ereignis, dem ich keineswegs freudig
entgegensah. Am liebsten wäre ich in der Schule geblieben.

Die Lehr- und Wanderjahre.
Was willst du denn werden? war die Frage, die jetzt mein Vormund,
ein Onkel von mir, an mich stellte. „Ich möchte das Bergfach
studieren!“ „Hast du denn zum Studieren Geld?“ Mit dieser
Frage war meine Illusion zu Ende.
Daß ich das Bergfach studieren wollte, war dadurch veranlaßt,
daß, nachdem im Anfang der fünfziger Jahre die Lahn bis Wetzlar
schiffbar gemacht worden war, in der Wetzlarer Gegend der
Eisenerzabbau einen großen Aufschwung genommen hatte. Bis dahin
hatten Haufen Eisenerze fast wertlos vor den Stollen gelegen, weil die
hohen Transportkosten die Ausnutzung der Erze wenig rentabel
machten. Da aus dem Bergstudium nichts werden konnte, entschloß

ich mich, Drechsler zu werden. Das Angebot eines Klempnermeisters,
bei ihm in die Lehre zu treten, lehnte ich ab, der Mann war mir
unsympathisch, auch stand er im Rufe
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