Aus meinem Leben, Erster Teil | Page 8

August Bebel
auch diese Arbeit mußte sie nach
einigen Jahren aufgeben, denn auch sie war mittlerweile von der
Schwindsucht ergriffen worden, die ihr in den letzten Lebensjahren
jede Arbeit unmöglich machte. Ich als Aeltester mußte die Ordnung
des kleinen Hauswesens, Stube und Kammer, übernehmen. Ich hatte
Kaffee zu kochen, Stube und Kammer zu reinigen und sie
samstäglich zu scheuern; ich mußte das Zinn- und Blechgeschirr
putzen, unser Bett machen usw., eine Tätigkeit, die mir nachher als
Handwerksbursche und politischer Gefangener sehr zustatten kam. Da
es meiner Mutter später aber auch unmöglich wurde, zu kochen,
ging jeder von uns beiden zu einer Tante zu Mittagessen, die sich zu
diesem Liebesdienst bereit erklärten. Für die Mutter selbst holten
wir abwechselnd bei verschiedenen bessersituierten Familien das
bißchen Essen, dessen sie benötigte. Um unsere Lage etwas zu
verbessern, beschloß ich, als Kegeljunge tätig zu sein. Nach
Schluß der Schule ging ich zum Kegelaufsetzen auf die Kegelbahn in
einer Gartenwirtschaft. Von dort kam ich in der Regel erst abends
gegen zehn Uhr nach Hause, am Sonntag weit später. Aber das
fortgesetzte Bücken verursachte mir so heftige Rückenschmerzen,
daß ich jeden Abend stöhnend nach Hause kam. Ich mußte diese
Beschäftigung einstellen. Eine andere Beschäftigung, an der wir
Jungen beide teilnahmen, war im Herbst das Kartoffellesen bei der
Ernte auf den Aeckern einer unserer Tanten. Es war, wenn es neblig,
naß und kalt war, keine angenehme Beschäftigung, von früh
sieben bis zum Dunkelwerden auf den Kartoffelfeldern zu arbeiten,
aber es winkte uns als Lohn ein großer Sack Kartoffeln für den
Winter, außerdem erhielten wir jeden Morgen, wenn wir mit aufs
Feld gingen, zur Anregung ein großes Stück Zwetschgenkuchen,
den wir beide leidenschaftlich liebten.

Als ich im dreizehnten und mein Bruder im zwölften Lebensjahr
stand, kam vom Militärwaisenhaus die Nachricht, mein Bruder
könne einrücken. Ich war auf Grund ärztlicher Untersuchung als
körperlich zu schwach dazu erklärt worden. Jetzt sank aber meiner
Mutter der Mut; sie fühlte ihr Ende nahen, und so glaubte sie es nicht
verantworten zu können, daß mein Bruder für zwei Jahre
Militärerziehung nachher zu neun Jahren Militärdienstzeit
verpflichtet werde. „Wollt ihr Soldat werden, so geht später
freiwillig, ich verantworte es nicht,“ äußerte sie zu uns. So
unterblieb der Eintritt meines Bruders in das Militärwaisenhaus, der
für mich damals zu meinem Bedauern nicht in Frage kam.
Mein lebhaftes kindliches Interesse weckten die Bewegungsjahre 1848
und 1849. Die Mehrzahl der Wetzlarer Einwohner war entsprechend
der Traditionen der Stadt republikanisch gesinnt. Diese Gesinnung
übertrug sich auch auf die Schuljugend. Bei einer Disputation über
unsere politischen Ansichten, wie sie unter Schuljungen vorzukommen
pflegt, stellte sich heraus, daß nur ein Kamerad und ich monarchisch
gesinnt waren. Dafür wurden wir beide mit einer Tracht Prügel
bedacht. Wenn sich also meine politischen Gegner über meine
„antipatriotische“ Gesinnung entrüsten, weil nach ihrer
Meinung Monarchie und Vaterland ein und dasselbe sind, so ersehen
sie aus der vermeldeten Tatsache, vielleicht zu ihrer Genugtuung,
daß ich schon fürs Vaterland gelitten habe, als ihre Väter und
Großväter noch in ihrer Maienblüte Unschuld zu den
Antipatrioten gehörten. Im Rheinland war wenigstens zu jener Zeit
der größere Teil der Bevölkerung republikanisch gesinnt.
Für meine Mutter brachte jene Zeit in ihr tägliches Einerlei
insofern eine kurze Abwechslung, als, ich glaube bei dem
Rückmarsch aus dem badischen Feldzug, das Bataillon des 25.
Infanterieregiments, bei dem mein Vater gedient hatte, kurze Zeit in
Wetzlar verblieb. In demselben standen noch eine Anzahl
Unteroffiziere, die meine Mutter von früher kannten. Diese
besuchten uns jetzt. Auf ihr Drängen ließ sich meine Mutter herbei,
einen Mittagstisch für sie einzurichten. Profitiert hat sie wohl nichts.
Ich hörte eines Tages, daß zwei der Gäste auf der Treppe beim

Fortgehen sich unterhielten und das Essen sehr lobten, sich aber auch
wunderten, daß es meine Mutter für so billigen Preis liefern
könne.
Sehr amüsant für uns Jungen waren die Bauernrevolten, die sich in
jenen Jahren im Wetzlarer Kreise abspielten. Die Bauern mußten
damals noch allerlei aus der Feudalzeit übernommene
Verpflichtungen erfüllen. Da alles für Freiheit und Gleichheit
schwärmte, wollten sie jetzt diese Lasten auch los sein; sie rotteten
sich also zu Tausenden zusammen und zogen nach Braunfels vor das
Schloß des Fürsten von Solms-Braunfels. An der Spitze des Zuges
wurde in der Regel eine große schwarzweiße Fahne getragen, zum
Zeichen, daß man allenfalls preußisch, aber nicht braunfelsisch
sein wolle. Ein Teil des Haufens trug Flinten vermiedenen Kalibers, die
große Mehrzahl aber Sensen, Mist- und Heugabeln, Aexte usw.
Hinter dem Zug, der sich mehrfach wiederholte und stets unblutig
verlief, marschierte in der Regel die Wetzlarer Garnison, um den
Fürsten zu schützen, wenn sie nicht schon vorher ausgerückt
war. Ueber die Begegnung der Bauernführer mit dem Fürsten
kursierten in Wetzlar sehr amüsante Erzählungen. Die Wetzlarer
blieben noch lange in ihrer oppositionellen Stimmung. Als im Jahre
1849 oder 1850 der Prinz von Preußen, der spätere Kaiser Wilhelm
I., in Begleitung des Generals v. Hirschfeld, der damals das
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