Aus meinem Leben, Erster Teil | Page 5

August Bebel

zusammengeschnürt, mußte der Uebeltäter zwei Stunden lang
auf dem Bauch liegend aushalten. Alsdann wurden ihm die Fesseln

abgenommen, aber nach wenigen Stunden begann die Prozedur von
neuem.
Das Gebrülle und Gestöhne der so Mißhandelten durchtönte
das ganze Gebäude und machte natürlich auf uns Kinder einen
schauerlichen Eindruck.
Hier in Brauweiler besuchte ich schon von Herbst 1844 ab, erst
vierundeinhalb Jahre alt, die Dorfschule, und zwar wurde ich in diesem
jugendlichen Alter als „Freiwilliger“ aufgenommen. Kehrten wir
Kinder aus dieser zurück, so mußten wir eines der Anstaltstore
passieren, das eine Schildwache zu öffnen hatte. Eines Tages aber
waren wir starr vor Ueberraschung, als der Posten die Tür öffnete
und wir statt des bisher im Gebrauch gewesenen Tschakos einen
glänzenden Helm von sehr bedeutender Höhe auf seinem Haupte
thronen sahen. Diese ersten Helme waren im Vergleich zu ihren
Nachfolgern in der Jetztzeit wahre Ungetüme und entsprechend
schwer. Wir erholten uns von unserer Ueberraschung und unserem
Staunen erst, als der Posten uns zuherrschte: „Jungs, macht, daß
ihr hereinkommt, oder ich schlage euch die Tür vor der Nase zu!“
Das Leben für uns Kinder war in der Anstalt nicht sehr
abwechslungsreich. Es spielte sich in der Hauptsache innerhalb eines
Teiles der Anstaltsmauern ab. Auch wurde unser Vater, der ein sehr
strenger Mann war und dem es an Aerger nicht fehlte, immer reizbarer,
eine Reizbarkeit, die durch die mittlerweile bei ihm zum Ausbruch
gekommene Schwindsucht immer mehr zunahm. Die Mutter und wir
Kinder hatten darunter viel zu leiden. Mehr als einmal mußte die
Mutter dem Vater in die Arme fallen, wenn dieser in maßloser
Erregung schwere körperliche Züchtigungen an uns vollzog. Sind
Prügel der höchste Ausfluß erzieherischer Weisheit, dann muß
ich ein wahrer Mustermensch geworden sein. Aber was ich geworden
bin, wurde ich wohl trotz der Prügel.
Andererseits wieder war der Vater aufs emsigste für unser Wohl
bemüht, denn er war trotz alledem ein gutherziger Mann. Konnte er
uns zum Beispiel zu Weihnachten, Neujahr oder Ostern eine Freude
bereiten, so geschah es, soweit es die bescheidenen Mittel erlaubten.

Und sehr bescheiden waren diese. Neben freier Wohnung (zwei
Stuben), Heizung und Licht empfing der Vater monatlich etwa acht
Taler Gehalt. Damit mußten fünf, später vier Menschen
auskommen, da mein jüngster Bruder, ein bildhübsches Kind und
der Liebling des Vaters, Sommer 1845 starb.
Die Krankheit meines Vaters machte unterdes rapide Fortschritte.
Bereits am 19. Oktober 1846 starb er nach etwa zweijähriger Ehe. So
war meine Mutter binnen drei Jahren zum zweitenmal Witwe und wir
vaterlose Waisen. Auch aus dieser Ehe hatte die Mutter keinen
Anspruch auf staatliche Unterstützung. Nunmehr blieb ihr nichts
übrig, als nach ihrer Heimat Wetzlar überzusiedeln. Anfang
November wurden abermals die Siebensachen auf einen Wagen
geladen — die heutigen Möbelwagen gab es wohl zu jener Zeit noch
nicht — und wurde die Reise nach Köln angetreten. Das Wetter war
häßlich. Es war kalt und regnerisch. In Köln wurde der Hausrat
am Rheinufer unter freiem Himmel aufs Pflaster gesetzt, um von dort
per Schiff nach Koblenz und von dort wieder per Wagen das Lahntal
hinauf nach Wetzlar transportiert zu werden. Als wir abends gegen 10
Uhr die Schiffskajüte zur Fahrt nach Koblenz betraten, war diese mit
Menschen überfüllt und herrschte ein Tabaksqualm zum Ersticken.
Da uns niemand Platz machte, legten wir zwei Jungen, todmüde wie
wir waren, uns dicht an der Tür auf den Fußboden und schliefen,
wie nur müde Kinder schlafen können. Den fünften oder
sechsten Tag kamen wir endlich in Wetzlar an, in dem damals noch
meine Großmutter und vier verheiratete Geschwister — drei
Schwestern und ein Bruder — meiner Mutter lebten.
Unsere eigentliche Jugendzeit verlebten wir jetzt hier. Wetzlar, eine
kleine, romantisch gelegene Stadt, besaß damals eine ganz
vortreffliche Volksschule. Zunächst kamen wir beide in die
Armenschule, die sich in einem großen Gebäude, dem Deutschen
Haus, das ehemals den deutschen Ordensrittern gehörte, befand. In
dem großen Vorhof zu diesem Gebäude steht links das
einstöckige Haus, in dem einst Charlotte Buff, die Heldin in Goethes
Werther, wohnte. Der Zufall wollte, daß ich später mehreremal in
diesem Hause übernachtete, als einer meiner Vettern Cicerone für

das Charlotte-Buff-Zimmer wurde. Ich kann mich auch noch der Feier
zum hundertsten Geburtstag Goethes (1849) erinnern, die am
Wildbacher Brunnen stattfand, woselbst sich die Goethelinde befindet.
Der Brunnen heißt seit jener Zeit Goethebrunnen. Zehn Jahre
später wohnte ich der Feier zu Schillers hundertstem Geburtstag im
Salzburger Stadttheater bei.
Nach einigen Jahren wurde die Armenschule mit der Bürgerschule
verschmolzen, wir hießen jetzt Freischüler; die Mädchen
erhielten das Deutsche Haus als Schulhaus angewiesen.
Mit der Schule und den Lehrern fand ich mich im ganzen sehr gut ab,
nur mit dem Kantor nicht, der mir nicht hold war. Ich gehörte zu den
besten Schülern, was namentlich unseren Lehrer der Geometrie, ein
kleiner prächtiger Mann, veranlaßte, mich mit noch zwei
Kameraden extra vorzunehmen und uns in die Geheimnisse der
Mathematik einzuweihen. Wir lernten mit Logarithmen rechnen.
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