Aus meinem Leben, Erster Teil | Page 4

August Bebel
dem Gedanken, daß die Mutter dieses
dennoch aus Not tun könnte, rief er in seiner durch die Krankheit
gesteigerten Erregung wiederholt aus: „Tust du es dennoch, ich
erstech' die Jungen vor der Kompagnie.“ In seiner Erregung
übersah er, daß er alsdann nicht mehr unter den Lebenden war.
Meinem Vater schlug insofern die Erlösungsstunde, als ihm im
Frühjahr 1843 der Posten eines Grenzaufsehers angeboten wurde,
für welchen Dienst er sich seit langem gemeldet hatte. Er nahm den
Posten an, und so zog die Familie teils zu Fuß, teils auf dem
Frachtwagen sitzend, der die Möbel trug — denn eine Eisenbahn gab
es zu jener Zeit in jener Gegend noch nicht —, nach Herzogenrad an
der belgischen Grenze. Aber unseres Bleibens war hier nicht lange.
Noch war die dreimonatige Probezeit nicht zu Ende, so hatte sich mein
Vater infolge des anstrengenden Nachtdienstes eine schwere
Erkrankung zugezogen. Muskelentzündung nannte es meine Mutter,
ich vermute, es war Gelenkrheumatismus, wozu sich die Schwindsucht

gesellte. Da durch den Nichtablauf der Probezeit mein Vater noch nicht
aus dem Militärverhältnis entlassen war, mußten wir mit dem
schwerkranken Manne dieselbe Reise in derselben Weise wieder nach
Köln zurücklegen. Ein sehr schweres Stück für meine Mutter.
In Köln angekommen, wurde der Vater in das Militärlazarett
geschafft, und uns wurde wieder eine Stube in den Deutzer Kasematten,
diesmal hinten nach dem Wallgraben hinaus, angewiesen. Nach
dreizehnmonatiger Krankheit starb der Vater, 35 Jahre alt, ohne daß
die Mutter die Berechtigung zum Bezug einer Pension hatte. Wir
mußten kurz nach dem Tode des Vaters die Kasematte verlassen, und
die Mutter wäre schon jetzt gezwungen gewesen, nach ihrer Heimat
Wetzlar überzusiedeln, wenn nicht der Zwillingsbruder des Vaters,
August Bebel, sich der Mutter und unserer annahm. Um diese Pflicht
besser erfüllen zu können, entschloß er sich, Herbst 1844, meine
Mutter zu heiraten.
Dieser mein Stiefvater war im September 1841 wegen
Ganzinvalidität mit einem Gnadengehalt von zwei Talern monatlich
aus dem Dienst im 40. Infanterieregiment entlassen worden. Ursache
der Invalidität war der Verlust der Kommandostimme infolge einer
Kehlkopfentzündung, die später ebenfalls in Schwindsucht
ausartete. Er hatte nach Aufgabe seiner Stellung im Regiment nahezu
zwei Jahre als Polizeiunteroffizier im Militärlazarett in Mainz
fungiert und hatte alsdann provisorisch die Stelle eines Revieraufsehers
in der Provinzial-Korrektionsanstalt Brauweiler bei Köln
angenommen. Seine eigentliche Absicht war, bei der Post in Dienst zu
treten. Aber damals befand sich das Postwesen noch in Stagnation.
Sollte eine Stelle besetzt werden, so mußte meist erst ein bisheriger
Stelleninhaber sterben oder pensioniert werden, ehe eine solche frei
wurde. Bezeichnend für die Art des Postdienstes jener Zeit ist, daß,
als mein Stiefvater im Sommer 1844 nach Ostrowo an seinen Bruder
schrieb, um eine ihm nötige amtliche Vollmacht für seine Heirat zu
erwirken, er auf der Adresse des zufällig in meinen Händen
befindlichen Briefes vermerkte: „Absender bittet um baldige
Abgabe.“ Die Briefbestellung war also damals offenbar eine seltene
und auch säumige. Die gewünschte Stelle bei der Post als
Briefträger wurde meinem Stiefvater nach mehrjährigem Warten

endlich im Oktober 1846 angetragen, als er eben auf der Totenbahre
lag.
Wir siedelten im Spätsommer 1844 nach Brauweiler über. Mein
nunmehriger Vater hatte hier in der großen Provinzialanstalt sicher
den schwersten Dienst. Er war unter anderem auch Aufseher der
Gefangenenanstalt, die sich dort für die Arbeitshäusler befand, die
wegen Vergehen in der Anstalt zu Gefängnis verurteilt wurden. Die
Anstalt bildete einen großen Komplex von Gebäuden und Höfen
und umschloß auch Gartenland. Das alles war mit einer hohen Mauer
umzogen. Männer, Frauen und jugendliche Insassen waren
voneinander getrennt. Um nach dem Arresthaus zu gelangen, in dem
sich auch unsere Wohnung befand, mußte man über mehrere
Höfe schreiten, die durch schwere verschlossene Türen
voneinander getrennt waren. Das Arresthaus war also von jeder
menschlichen Umgebung abgeschieden. Allabendlich, sobald die
Dämmerung eintrat, flogen Dutzende von Eulen in allen Größen
mit ihrem Gefauche und Gekrächze um das Gebäude und jagten
uns Kindern Angst und Schrecken ein. Der Aufenthalt dieser Eulen war
der Turm der nahen Kirche. Auch sonst war dieser Aufenthalt für uns
Kinder, und vermutlich auch für meine Eltern, kein erfreulicher. Der
Dienst meines Vaters, der morgens um 5 Uhr begann und bis zum
späten Abend währte, war ein sehr anstrengender und mit viel
Aerger verknüpft. Die Art der damaligen Gefangenenbehandlung
war eine grausame. Ich habe mehr als einmal mit angesehen, daß
junge und ältere Männer, die extra schwer bestraft wurden, sich der
scheußlichen Prozedur des Krummschließens unterziehen
mußten. Dieses Krummschließen bestand darin, daß der
Delinquent sich auf den Boden der Zelle auf den Bauch zu legen hatte.
Alsdann bekam er Hand- und Fußschellen angelegt. Darauf wurde
ihm die rechte Hand über den Rücken hinweg an den linken Fuß
und die linke Hand ebenfalls über den Rücken an den rechten
Fuß gefesselt. Damit noch nicht genug, wurde ihm ein leinenes Tuch
strickartig um den Körper über Brust und Arme auf dem Rücken
scharf zusammengezogen. So als lebendes Knäuel
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