Neben
Rechnen und Geometrie waren meine Lieblingsfächer Geschichte
und Geographie. Religion, für die ich keinen Sinn hatte — und
meine Mutter, eine aufgeklärte und freidenkende Frau, quälte uns
zu Hause nicht damit —, lernte ich nur, weil ich mußte. Ich war
zwar auch hier mit an der ersten Stelle, aber das verhinderte nicht,
daß ich namentlich in der Katechumenenstunde dem Oberpfarrer
einigemal Antworten gab, die gar nicht ins Schema paßten und mir
kleine Strafpredigten eintrugen.
Im übrigen war unser Oberpfarrer ein sehr ehrenwerter Mann und
durchaus kein Frömmling, was aber, nebenbei bemerkt, nicht
verhinderte, daß man ihm eines Tages, richtiger in einer Nacht, einen
losen Streich spielte. In Wetzlar bestand zu jener Zeit die Sitte, sie
besteht vielleicht auch heute noch, die im Spätherbst oder Winter
geschlachteten Gänse eine Nacht der Durchfrierung auszusetzen, das
soll dem Geschmack des Bratens förderlich sein. Die Gans wurde
also in respektvoller Höhe, in der Regel vor das Fenster gehängt. So
auch bei Oberpfarrers. Aber am nächsten Morgen war die Gans
verschwunden. Dagegen hing am darauffolgenden Morgen das fein
säuberlich abgenagte Gerippe der Gans am Glockenzug der
Haustür und daran befestigt ein Zettel, auf dem das schöne Verslein
stand:
Guten Morgen, Herr Schwager! Gestern war ich fett und heut bin ich
mager!
Ganz Wetzlar lachte, denn in einer kleinen Stadt sprechen sich
derartige Vorkommnisse rasch herum. Ich nehme an, auch der
Oberpfarrer lachte.
Wenn ich aber fleißig lernte und überall im Können mit an der
Spitze stand, so stand ich auch an der Spitze der meisten losen Streiche,
die nun einmal bei Jungen, die ein größeres Maß
Bewegungsfreiheit haben, unausbleiblich, ja selbstverständlich sind.
Das brachte mich in „sittlicher“ Beziehung in einen üblen Ruf.
Namentlich genoß ich diesen bei unserem Kantor, der das
Departement des Aeußern zu vertreten hatte, das heißt, der all die
bösen Streiche, die der Schule gemeldet wurden, an den Attentätern
zu bestrafen hatte. Wieso er, statt des Rektors, zu dieser Rolle kam,
weiß ich nicht. Vielleicht daß sein Dienstalter oder seine
Körperfülle oder ein Gewohnheitsrecht ihn dazu prädestinierte.
Auch wußte er mit unnachahmlicher Grazie und sehr wirksam den
Bakel zu schwingen. Weniger schmerzte es, wenn er mit seinen kleinen
fetten Händen uns rechts und links ins Gesicht fuhr, daß es nur so
klatschte. Aber auch in einem solchen Moment konnte ich nicht
unterlassen, die kleinen fetten Hände zu bewundern.
Unsere Haupttummelplätze waren die nächste Umgebung des
Domes, das alte Reichskammergerichtsgebäude, dessen große
Räume jahrelang als Lagerplatz einem Gastwirt dienten, die große
Burgruine Kalsmunt vor der Stadt, die Felsenpartien an der
Garbenheimer Chaussee — der Ort Garbenheim besitzt ebenfalls
Erinnerungen an Goethe —, auf deren Felsplatten wir unsere
„Festungen“ errichteten, die alte Stadtmauer und vor allem die auf
einem Hochplateau gelegene Garbenheimer Warte, von der aus wir im
Herbste unsere Raubzüge in die Kartoffelfelder unternahmen, um
Kartoffeln zum Braten zu holen. Eines Tages mußten wir dafür
eine mehrstündige Belagerung durch eine Bauernfamilie aushalten,
die wir aber siegreich abschlugen. Die Streifereien durch Wald und
Flur, namentlich während der Ferien, waren zahllos.
Auch war das Obststrippen, wie wir es nannten, eine
Lieblingsbeschäftigung im Sommer und Herbste, denn die
Umgebung Wetzlars ist sehr obstreich. Die Lahn, ein ganz respektabler
Fluß, gab im Sommer die gewünschte Badegelegenheit und im
Winter die Möglichkeit zum Schlittschuhsport. Bei einer solchen
Gelegenheit passierte es, daß mein Bruder hart neben mir in ein
leicht zugefrorenes Loch einbrach und unzweifelhaft unter das Eis
geraten und ertrunken wäre, breitete er nicht unwillkürlich die
Arme aus, die ihn oben hielten. Ein Kamerad und ich zogen ihn aus
dem Wasser und brachten ihn auf eine Felsplatte an der Garbenheimer
Chaussee. Hier mußte er sich entkleiden, wir borgten ihm einzelne
Kleidungsstücke von uns und rangen dann seine Kleider aus, die wir
in der ungewöhnlich warmen Februarsonne trockneten. Die Mutter
erfuhr erst nach Monaten den Unfall ihres Zweiten, was dadurch
ermöglicht wurde, daß wir unsere Kleider selbst reinigten, auch, so
gut es ging, selbst flickten, um die Risse dem Auge der Mutter zu
verbergen.
Das Jahr darauf half ich einem meiner Vettern, der einige Jahre älter
war als ich, bei ähnlicher Gelegenheit das Leben retten. Dieser, ein
vorzüglicher Schlittschuhfahrer, kam eines Tages in sausender Fahrt
die Lahn herunter und fuhr auf ein Wehr zu, wobei er infolge der
spiegelblanken Eisfläche nicht sah, daß vor dem Wehr ein breiter
Streifen offenes Wasser war. Voll Schrecken schrie ich ihm zu,
umzukehren. Er gehorchte auch. Aber es war zu spät. Als er den
Ausweichbogen beschrieb, brach er ein. Krampfhaft hielt er sich am
Eis fest, sobald er aber den Versuch machte, ein Bein auf dasselbe zu
bringen, brach es von neuem. Rasch riß ich jetzt einen langen
gestrickten wollenen Schal, wie sie damals allgemein getragen wurden,
vom Hals, nahm einen zweiten von einem neben mir stehenden
Kameraden, knüpfte beide zusammen und warf das eine Ende
meinem Vetter zu, das er glücklich erhaschte. Jetzt
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