Aus meinem Leben, Erster Teil | Page 3

August Bebel
(8.
rheinisches Füsilierregiment) übertrat.
Eine preußische Unteroffiziersfamilie der damaligen Zeit lebte in
erbärmlichen Verhältnissen. Das Gehalt war mehr als knapp, wie
denn zu jener Zeit überhaupt in der Militär- und Beamtenwelt
Preußens Schmalhans Küchenmeister war, und so ziemlich jeder
für Gott, König und Vaterland den Schmachtriemen anziehen und
hungern mußte. Meine Mutter erhielt die Erlaubnis, eine Art Kantine
führen zu dürfen, das heißt sie hatte das Recht, allerlei kleine
Bedarfsartikel an die Mannschaften der Kasematten zu verkaufen, was
in der einzigen Stube geschah, die wir inne hatten. So sehe ich sie im
Geiste noch heute vor mir, wie sie abends bei der mit Rüböl
gespeisten Lampe den Soldaten die steinernen Näpfe mit dampfenden
Pellkartoffeln füllte, à Portion 6 Pfennig preußisch.
Für uns Kinder — mir war im April 1841 der erste Bruder und im
Sommer 1842 der zweite geboren worden — war das Leben in den
Kasematten ein Leben voller Wonnen. Wir trieben uns in den
Kasemattenstuben umher, verhätschelt oder auch gehänselt von
Unteroffizieren und Mannschaften. Waren aber die Stuben leer, weil
die Mannschaften zu Uebungen ausgerückt waren, so begab ich mich
auf eine derselben und holte die Gitarre des Unteroffiziers Wintermann,
der auch mein Taufpate war, von der Wand, auf der ich dann so lange
musikalische Uebungen betrieb, bis keine Saite mehr ganz war. Um
diesen ungezügelten Musikübungen und ihren bösen Folgen eine
entsprechende Ablenkung zu geben, schnitzte er mir aus einem Brett
ein gitarreartiges Instrument, das er mit Darmsaiten bezog. Ich saß
nunmehr mit diesem in Gesellschaft meines Bruders stundenlang auf
der Türschwelle zu einem Hof in der Deutzer Hauptstraße und
malträtierte die Saiten, was die beiden Töchter eines
gegenüberwohnenden Dragonerrittmeisters so „entzückte“,
daß sie uns öfter für meine musikalischen Leistungen mit

Kuchen oder Konfekt regalierten. Natürlich litten unter diesen
musikalischen nicht die militärischen Uebungen. Der Anreiz dazu lag
ja in der ganzen Umgebung, er lag buchstäblich in der Luft. Sobald
ich also die ersten Hosen und den ersten Rock anhatte, die
selbstverständlich beide aus einem alten Militärmantel des Vaters
gezimmert worden waren, stellte ich mich, ausgestattet mit der
nötigen Bewaffnung, neben oder hinter die auf dem freien Platz vor
der Kasematte übenden Mannschaften und ahmte ihre Bewegungen
nach. Wie mir meine Mutter später öfter humorvoll erzählte, soll
ich namentlich das rechts und links Aufrücken meisterlich fertig
bekommen haben, eine Uebung, die den Mannschaften viel Schweiß
verursachte und bei der ich ihnen manchmal von dem
kommandierenden Offizier oder Unteroffizier als Muster hingestellt
worden sein soll.
Meines Vaters Augen sahen aber allmählich das Kommißleben
anders an wie sein Sohn. Er war zwar, wie uns meine Mutter öfter
erzählte, gleich seinem Bruder ein außerordentlich gewissenhafter,
pünktlicher und adretter Militär — ein sogenannter Mustersoldat
—, aber er hatte zu jener Zeit bereits seine zwölf und mehr Jahre
Militärdienstzeit auf dem Rücken, und stand ihm das
Soldatenleben schließlich, wie man zu sagen pflegt, bis an den Hals.
Der Dienst wurde damals wohl auch noch kleinlicher und engherziger
betrieben als heute. Der Gamaschendienst feierte zu jener Zeit seine
Orgien. An Unabhängigkeits- und Oppositionsgeist hat es meinem
Vater offenbar auch nicht gefehlt, für den zu jener Zeit in der
Rheinprovinz der rechte Boden war, und so kam er öfter in
höchstem Zorn und mit Verwünschungen auf den Lippen vom
Exerzierplatz in die düstere Kasemattenstube. Als im Jahre 1840
unter Louis Philipp und seinem Ministerium Thiers ein Krieg zwischen
Frankreich und Preußen drohte, soll er eines Tages in höchster
Empörung in die Stube getreten sein, weil nach seiner Ansicht ein
blutjunger Offizier ihm zu nahe getreten war, und meiner Mutter
zugerufen haben: „Frau, wenn es losgeht, die erste Kugel, die ich
verschieße, gilt einem preußischen Offizier!“ Der Ausdruck
„preußischer Offizier“ im Munde eines preußischen
Unteroffiziers befremdet, er erklärt sich aber. Damals und noch viel

später wurde von der Bevölkerung des preußischen Rheinlands
jeder Offizier und Beamte einfach als „Preuß“ bezeichnet. Die
Rheinländer fühlten sich noch nicht als Preußen. Mußte ein
junger Mann Soldat werden, hieß es kurz: er muß Preuß
(plattdeutsch „Prüß“) werden. Es gab sogar hierfür ein
derbes Schimpfwort. Ich hörte noch im Frühjahr 1869, als ich mit
Liebknecht in einer politischen Angelegenheit in Elberfeld war, daß
in der Wirtsstube des Hotels, in dem wir wohnten, ein Gast zu den
anderen sagte: „Was will denn der preußische Offizier hier?“,
als er auf der Straße einen Offizier vorübergehen sah. Elberfeld
hatte damals wie heute keine Garnison.
Die geschilderte Auffassung war offenbar auch meinem Vater
geläufig geworden. Als er dann in den Jahren 1843 und 1844 nach
fünfzehnjähriger Dienstzeit als schwer kranker Mann über Jahr
und Tag im Militärlazarett verbringen mußte, den Tod und das
Elend seiner Familie vor Augen, hat er die Mutter wiederholt in der
nachdrücklichsten Weise gebeten, nach seinem Tode uns Jungen ja
nicht für das Militärwaisenhaus einzugeben, weil damit die
Verpflichtung zu einer späteren neunjährigen Dienstzeit in der
Armee verbunden war. Bei
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