Aus dem Durchschnitt - Roman | Page 8

Gustav Falke
diesem Augenblick.
"Ihr geht doch spazieren nachher?" fragte er. "Das Wetter ist so milde.
Sitzt nur nicht wieder den ganzen Tag hier im Keller."
"Du kennst ja die Tante", entschuldigte sie.
"Luft und Licht sind Euch beiden nötig ", eiferte er. "Also steckt die
Nase man mal hinaus."
Er reichte ihr die Hand zum Abschied.
"Willst Du schon gehen?" fragte sie bedauernd, mit aufrichtiger
Betrübnis.

"Meine Freunde warten", erklärte er.
"Kommst Du bald wieder?" bat sie.
Er versprach es.
"Adieu, liebe Tante", rief er über den Korridor in die Küche hinein, wo
die Wittfoth mit Messern und Gabeln klapperte.
Therese gab ihm das Geleit bis an die Thür. Lange sah sie ihm nach.
Auf ihren Platz am Fenster zurückgekehrt, las sie im Liebesfrühling,
brockenweise, hier ein Gedicht, dort eine Strophe, ohne ganz bei der
Sache zu sein.
Sie wußte ja, das Buch war eigentlich für Mimi bestimmt.
Mimi und Gedichte!
Was waren der alle schönen Gefühle und erhabenen Gedanken. Was
war ihr überhaupt Hermann. Nichts mehr, als jeder andere heiratsfähige
Kurmacher.
Mimi war ein gutes Mädchen, aber leicht und oberflächlich. Und
anspruchsvoll war sie.
Wie hatte sie sich gestern alle Aufmerksamkeiten als selbstverständlich
gefallen lassen. Und Hermann war doch kein Krösus.
Therese hatte tausend Gründe gegen eine Verbindung zwischen ihrem
Vetter und Mimi, denn sie liebte ihn selbst.
Sein gutes, freundliches, sich immer gleich bleibendes Wesen sprach
sie an. Er galt ihr für gescheut. Sein bischen Lehrerweisheit imponierte
dem unwissenden, früh der Schule entrissenen, aber lerneifrigen
Mädchen.
"Weinst Du?" fragte die Tante, in ihrer fahrigen, kreiselnden Weise ins
Zimmer tretend.

"Ich? Nein. Wie so?" stotterte Therese und versuchte zu lachen.
Bei Behns drüben fuhr in diesem Augenblick eine Droschke vor. Die
Familie kehrte von einer Ausfahrt zurück.
Die Wittfoth stürzte ans Fenster.
"Die können's. Immer nobel."
Fräulein Lulu verließ als letzte etwas langsam den Wagen.
"Greif Dich man nich an," spottete die Wittfoth. "Wie sie schlappt."
Therese, solche Bemerkungen der Tante gewohnt und wenig erbaut
davon, schwieg.
"Hast Du gesehn?" fuhr diese fort. "Beim Aussteigen? Die hat ja wohl
seit acht Tagen keine frischen Strümpfe angezogen."
"So?" zweifelte Therese.
"Pechschwarz, und 'n Loch war auch drin," eiferte die Tante.
"Das kannst Du von hier sehen?" wunderte sich das Mädchen.
"Na, jedenfalls würd' ich mich schämen, mit solchen Strümpfen
auszufahren," lenkte die Wittfoth ein. "Und noch dazu auf'n Ostern."

VI.
Lulu Behn entsprach so ziemlich ihrem Ruf. Vom Vater verzogen,
dessen Liebling die ihm ähnliche Erstgeborene geblieben war, der
schwachen, etwas beschränkten Mutter an Verstand weit überlegen,
genoß sie nach Kräften die bequemen Tage, die die gute Lebensstellung
der Eltern ihr ermöglichte. Ihr Hang zur Bequemlichkeit artete in
Trägheit aus, je weniger die unter harter Arbeit groß gewordene Mutter
vom Selbstwirtschaften ablassen wollte, trotzdem der in den letzten

Jahren oft kränkelnden Frau von dem gutmütigen Mann in jeder Weise
Erleichterung zu Gebote gestellt wurde.
Mit Hilfe eines Dienstmädchens und der zweiten, vierzehnjährigen
Tochter Paula, die in allem der Mutter ähnelte, konnte sie recht gut den
Pflichten des schlicht bürgerlichen Hauswesens nachkommen, ohne auf
die Unterstützung der älteren Tochter angewiesen zu sein.
Lulu, die früh gute Anlagen zum Lernen zeigte, hatte eine für ihre
Verhältnisse sorgsame Ausbildung genossen. Sie war zwei Jahre in
einer auswärtigen Pension gewesen, wohin sie der Vater des
Hausfriedens wegen schickte, da Mutter und Tochter sich schlecht
vertrugen.
Auch Musikunterricht hatte Lulu gehabt. Als Dame war sie ins
Elternhaus zurückgekehrt.
Die Schwester war in allem das Gegenteil. Sie zeigte unüberwindliche
Abneigung gegen jedes Lernen, aber alle Talente der Mutter zum
Hauswesen. Hoch aufgeschossen, kräftig, kerniger als die Mutter,
arbeitete sie, wenn es galt, mit dem Dienstmädchen um die Wette. Gab
es nichts zu scheuern, putzen, spülen oder schrapen in der Küche, so
spielte sie lieber auf der Straße mit ihren Altersgenossen, am liebsten
mit den Knaben, als hinter den Schulbüchern zu sitzen.
Der Vater, der sich vom einfachen Maurergesellen zum Hausbesitzer
hinaufgearbeitet hatte, war vernünftig genug, die Kleine, ihren
Neigungen und Fähigkeiten entsprechend in die Volksschule zu
schicken.
"Die wird noch mal 'ne fixe Köksch," pflegte er zu sagen. "Jeder nach
seiner Art."
Trotzdem blickte er mit Stolz auf seine gebildete Tochter. Mit der
wollte er höher hinaus.
Schon zweimal hätte Lulu eine anständige Partie machen können, aber
beide Freier waren kleine Handwerker, Anfänger, und der alte Behn

wollte für seine Lulu einen "Herrn".
Glücklich war er, wenn ihm das Mädchen vorspielte. Das Blumenlied
von Gustav Lange, der Kußwalzer von Strauß und die Ouverture zum
"Kalifen von Bagdad" waren seine Lieblinge und Lulus Parforcestücke.
Diese und zwei oder drei andere hatte sie aus der Pension mit nach
Hause gebracht und seitdem nur noch Ludolf Waldmanns gerade
populär gewordenes Lied "Fischerin, Du kleine" hinzugelernt, Paulas
Leiblied, zu dem sie jedesmal zu Lulus Aerger den Text mit ihrer
hellen, blechernen Kinderstimme heruntersang, eine Liebhaberei, die
sie mit Anna, dem Dienstmädchen, teilte.
Lulu war
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