Aus dem Durchschnitt - Roman | Page 5

Gustav Falke
werden, als die

Wittfoth den Ausschlag gab.
"Was?" schalt sie. "Das sind junge Leute, und fürchten sich vor Schnee?
Marsch, fort mit Euch!"
"Man nich so eitel, Fräulein", wandte sie sich direkt an Mimi. "Sie sind
noch lange hübsch genug. Wenn der Rechte kommt, sieht er nicht erst
aufs Kleid."
"Das mein ich auch", bekräftigte Hermann eifrig. "Wenn die Rose
selbst sich schmückt, schmückt sie auch den Garten."
"Nun wird's Zeit", rief die Wittfoth, "wenn Schiller erst redet."
"Rückert, liebe Tante", belehrte Hermann.
Die liebe Tante überhörte diese Belehrung und wandte sich an Therese:
"Daß Du Dich mir warm anziehst, Kind. Du weißt, Du bist gleich
erkältet. Und daß Ihr mir fahrt heute Abend, hörst Du Hermann? Die
Abendluft ist so gefährlich."
Mimi, die sich mürrisch zum Ankleiden entfernt hatte, kam wie
verwandelt wieder. Sie lachte über das ganze Gesicht.
Sie trug ein schlichtes graues Kleid, eine knapp anschließende
schwarze Plüschjacke, ein schwarzes, langhaariges Müffchen und ein
dunkelbraunes kokettes Pelzbarett, das ihr allerliebst stand. Ein Blick in
den Spiegel hatte sie schnell über das blaue Kleid getröstet, und höchst
zufrieden fand sie sich wieder bei den andern ein. Sie war der
Wettermacher. Ihre Stimmung war immer ausschlaggebend, sie hatte
etwas mitreißendes, dominierendes in ihrem Wesen.
Hermann war glücklich über diesen schnellen Umschlag ihrer Laune
und bemerkte mit Wohlgefallen ihr vorteilhaftes Aussehen. Therese
freute sich, wenn andere sich freuten, und so nahm man gut gelaunt von
der Tante Abschied.

IV.
Die Wittfoth hatte sich eine Tasse starken Kaffee bereitet, ihr
Lieblingsgetränk, der zwar für die vollblütige, nervöse Frau das reine
Gift war, dem sie jedoch mit wahrer Leidenschaft zusprach. Wenn Frau
Caroline von "einer Tasse Kaffee" sprach, so war das nur der
einfachere Ausdruck für ein gefülltes Kannenmaß. Heute, zur Feier des
Festtages, hatte sie sogar noch für eine Tasse über das gewöhnliche
Maß gesorgt, sich guten Rahm statt der sonst bei ihr üblichen Milch
gegönnt und neben der gefüllten Zuckerschale einen selbstgebackenen
Kuchen gestellt.
Seit Jahren kam zu allen Festlichkeiten ein solcher Kuchen, ein großer,
flacher Platenkuchen mit Zucker- und Mandelaufguß auf den Tisch.
Wer dieses Gebäck nicht genug zu würdigen wußte, hatte es mit der
kleinen Frau verdorben. Ihr Platenkuchen war ihr Stolz.
Behaglich in den tiefen Lehnstuhl fast versinkend, ließ sich die
Wittfoth ihren Festkaffee vortrefflich schmecken. Sie steckte ihre
Näharbeit in die Ecke des Sofas und nahm sich vor, den Rest des
Nachmittags mit gemütlichem Nichtsthun zu verbringen. Sie wollte
auch ihren Feiertag haben. Sie mußte sich wahrlich genug plagen. "Ich
wundere mich nur, daß mir der Kaffee noch so gut schmeckt", sagte sie
oft.
Im Grunde hatte sie wenig Ursache zum Klagen. Die Mädchen nahmen
ihr alle Arbeit ab. Selbst die Küche brauchte sie nicht allein zu
besorgen. Dennoch war sie überzeugt, daß niemand so mit Arbeit
überbürdet sei wie sie.
Sie war immer in Bewegung und meistens in unnötiger. Sie war überall
und nirgends, bald in der Küche, bald im Laden oder im Arbeitszimmer,
hier einen Topf oder eine Pfanne, dort einen Flicken oder einen
Bindfaden aus dem Wege räumend, um ihn an anderer Stelle
abzulagern, wo er oft noch mehr im Wege war. Alle Augenblicke
seufzte sie "meine Beine, meine Beine" und brummkreiselte doch
wieder ruhelos auf ihren kurzen Beinen weiter. Kein Wunder, wenn sie
am Abend "von all der Arbeit" müde war.

Auch jetzt hatte sie sich, trotzdem sie allein war, mit ihrem
Gewohnheitsseufzer "Meine Beine, meine Beine" niedergelassen. Der
duftige Trank regte ihre Lebensgeister an, der Kuchen war nach ihrem
Geschmack vortrefflich geraten, und ein seltsames Wohlgefühl
überkam sie.
Aus einer der über ihrem Keller gelegenen Etagenwohnungen drang
gedämpftes Klavierspiel zu ihr: Zwei Teile des Donauwalzers von
Strauß und dann Ketterers beliebtes Salonstück "Silberfischchen".
"Schnutentante klimpert wieder", sagte die Wittfoth im Selbstgespräch.
Schnutentante war eine vierzehnjährige "höhere Tochter", der sie
wegen ihrer das Normalmaß überschreitenden Nase diesen Namen
beigelegt hatte.
Aber das Klimpern war der einsamen Kaffeetrinkerin nicht
unangenehm. Die Musik stimmte sie sentimental. Das Gefühl des
Alleinseins überkam sie, die wohlthuende Empfindung des Mitleids mit
sich selbst.
Das Wetter draußen war fortgesetzt unfreundlich. Der Wind warf
einzelne Regen- und Schneeschauer gegen die Fenster, die in gleicher
Höhe mit dem Trottoir lagen.
Frau Wittfoth freute sich doch, zu Hause geblieben zu sein. Der Ofen
strahlte so gemütliche Wärme aus. Gott sei Dank, daß sie nicht draußen
"rumzupatschen" brauchte.
Aber die Musik von oben führte ihre Gedanken den jungen Leuten nach,
ins Konzerthaus. Sie hörte so gerne Musik. Als ihr Seliger noch lebte,
besuchten sie häufig die Gartenkonzerte bei Mutzenbecher, jetzt
Hornhardt, auf St. Pauli, oder im "Zoologischen".
Das war lange her.
Jetzt, mit den Jungen, machte es ihr nur halbes Vergnügen. Sie fühlte
sich überflüssig in deren Gesellschaft.

Aber war sie denn nicht auch noch jung? Waren denn fünfunddreißig
Jahre ein Alter?
Zu den achtzehnjährigen Backfischen allerdings paßte sie nicht mehr.
Aber um schon auf alle
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