Auf dem Staatshof | Page 8

Theodor W. Storm
sagen, beunruhigt. Meine Phantasie ließ
nicht nach, mir die kleinsten Züge seines Wesens wieder und wieder
vor Augen zu führen; und besonders mußte ich mich eines übrigens
geringfügigen Vorfalls erinnern, der mich gegen die Natur dieses
Menschen in völligem Widerspruch setzte.
Es war im Spätsommer; unsre Familie saß in der Ligusterlaube beim
Nachmittagskaffee, wozu außer dem alten Syndikus auch der
Kammerjunker sich eingefunden hatte. Die Herren mochten, ehe ich
hinzukam, geschäftliche Sachen erörtert haben; denn das alte
Porzellanschreibzeug meines Vaters stand neben dem übrigen Geschirr
auf dem Tische. Anne Lene ging in stiller Geschäftigkeit ab und zu;
bald um im Hause die Bunzlauer Kanne aufs neue zu füllen, bald um
die Wachskerze für die Tonpfeife des Syndikus anzuzünden, die über
dem Plaudern immer wieder ausging. Das Gespräch der beiden älteren
Herren hatte sich mittlerweile auf städtische Angelegenheiten gewandt,
welche für den Fremden wenig Interessen boten. Er hatte die Arme vor
sich auf den Tisch gestreckt und schien seinen eignen Gedanken
nachzugehen; nur wenn draußen zwischen den sonnigen Beeten das
Kleid des jungen Mädchens sichtbar wurde, hob er die Augenlider und
sah nach ihr hinüber. Es war in diesem lässigen Anschauen etwas, das
mich in einen ohnmächtigen Zorn versetzte; zumal als ich sah, wie
Anne Lene die Augen niederschlug und sich, wie um Schutz zu suchen,
an meiner Mutter Seite auf das äußerste Ende der Bank setzte. Der
Kammerjunker, ohne sie weiter zu beachten, haschte eine Mücke, die
eben an ihm vorüberflog. Ich sah, wie er sie an den Flügeln sorgsam
zwischen seinen Fingern hielt, wie er den Kopf herabneigte und die
hilflosen Bewegungen des Geschöpfes mit Aufmerksamkeit zu
betrachten schien. Nach einer Weile nahm er die neben ihm liegende
Schreibfeder, tauchte sie in das Tintenfaß und begann nun
nacheinander Kopf und Brustschild seines kleinen Opfers in langsamen
Zügen damit zu bestreichen. Bald aber änderte er sein Verfahren; er
zog die Feder zurück und führte sie wie zum Stoß wiederholt gegen die

Brust der Kreatur, welche mit den feinen Füßen die auf sie
eindringende Spitze vergebens abzuwehren strebte. Seine blanken
Augen waren ganz in dies Geschäft vertieft. Endlich aber schien er
dessen überdrüssig zu werden; er durchstach das Tier und ließ es vor
sich auf den Tisch fallen, indem er zugleich eine Frage meines Vaters
beantwortete, die seine Aufmerksamkeit erregt haben mochte.--Ich
hatte wie gebannt diesem Vorgange zugesehen, und Anne Lene schien
es ebenso ergangen; denn ich hörte sie aufatmen, wie jemand, der von
einem auf ihm lastenden Druck mit einem Male befreit wird.
Einige Tage darauf vermißten wir Anne Lene bei der Mittagstafel, was
sonst niemals zu geschehen pflegte.--Als ich, um sie zu suchen, in den
Garten trat, begegnete mir der Kammerjunker, der wie gewöhnlich mit
einem halben Kopfnicken an mir vorbeipassierte. Da ich Anne Lene
nicht gewahrte, so ging ich in den untern Teil des Gartens, in welchem
mein Vater eine kleine Baumschule angelegt hatte. Hier stand sie mit
dem Rücken an einen jungen Apfelbaum gelehnt. Sie schien ganz
einem innern Erlebnis zugewendet; denn ihre Augen starrten
unbeweglich vor sich hin, und ihre kleinen Hände lagen fest
geschlossen auf der Brust. Ich fragte sie: "Was ist denn dir begegnet,
Anne Lene?" Aber sie sah nicht auf; sie ließ die Arme sinken und sagte:
"Nichts, Marx; was sollte mir begegnet sein?" Zufällig aber hatte ich
bemerkt, daß die Krone des kleinen Baumes wie von einem
Pulsschlage in gleichmäßigen Pausen erschüttert wurde, und es
überkam mich eine Ahnung dessen, was hier geschehen sein könne;
zugleich ein Reiz, Anne Lene fühlen zu lassen, daß sie mich nicht zu
täuschen vermöge. Ich zeigte mit dem Finger in den Baum und sagte:
"Sieh nur, wie dir das Herz klopft!"
Diese Vorfälle, welche damals bei der kurz danach erfolgten Abreise
des Kammerjunkers bald von mir vergessen waren, ließen nun nicht ab,
mich zu beunruhigen, bis sie endlich von den Leiden und Freuden des
Studentenlebens aufs neue in den Hintergrund gedrängt wurden.

Ich habe nicht von mir zu reden.

Etwa zwei Jahre später um Ostern kehrte ich als junger Doctor
promotus in die Heimat zurück. Schon vorher hatte man mir
geschrieben, daß das fortdauernder Sinken der Landpreise den Verkauf
des Staatshofes nötig machen werde, und daß Anne Lene aus einem
immerhin noch reichen Erbin wahrscheinlich ein armes Mädchen
geworden sei. Nun erfuhr ich noch dazu, daß auch ihre Verlobung sich
aufzulösen scheine. Die Briefe des Bräutigams waren allmählich
seltener geworden und seit einiger Zeit ganz ausgeblieben. Anne Lene
hatte das ohne Klage ertragen; aber ihre Gesundheit hatte gelitten, und
sie befand sich gegenwärtig schon seit einigen Wochen zu ihrer
Erholung draußen auf dem Staatshof, wo man eins der kleineren
Zimmer in dem oberen Stockwerk für sie instand gesetzt hatte.
Obwohl ich seit ihrem Brautstande nicht an sie geschrieben, so konnte
ich doch nicht unterlassen, noch am Tage meiner Ankunft zu ihr
hinauszugehen. --Es war schon spätnachmittags, als
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