Auf dem Staatshof | Page 9

Theodor W. Storm
ich den Staatshof
erreichte. Die alte Wieb fand ich draußen auf dem Wege an einem
Heck stehend, von wo ein Fußsteig über die Fennen nach dem Deiche
zu führte. Sie hatte mich nicht kommen sehen, da sie den Rücken gegen
den Weg kehrte, und als ich unvermerkt ihre harte Hand erfaßte,
vermochte sie mich erst nicht zu erkennen. Bald aber trat ein Ausdruck
der Freude in das alte Gesicht, und sie sagte: "Gott sei Dank, daß du da
bist, Marx! So eine treue Seele tut uns gerade not!"
"Wo ist Anne Lene?" fragte ich. Die Alte zeigte mit der Hand ins Land
hinaus und sagte bekümmert: "Da geht sie wieder in der Abendluft!"
Etwa auf dem halben Wege nach dem Haffdeiche, der hier nördlich von
dem Hofe die Landschaft gegen das Meer hin abschließt, sah ich eine
weibliche Gestalt über die Fennen gehen. "Setz nur den Kessel ans
Feuer, Wieb", sagte ich, "ich will sie holen, wir kommen bald
zurück."--Nach einer Weile hatte ich Anne Lene erreicht. Als ich ihren
Namen rief, stand sie still und wandte den Kopf nach mir zurück. Ich
fühlte plötzlich, wieviel von ihrem Bilde in meiner Erinnerung
erloschen sei. So lieblich hatte ich sie mir nicht gedacht; und doch war
sie dieselbe noch; nur ihre Augen schienen dunkler geworden, und die
Linien des zarten Profils waren ein wenig schärfer gezogen als vor

Jahren. Ich faßte ihre beiden Hände. "Liebe Anne Lene", sagte ich, "ich
bin eben angekommen; ich wollte dich noch heute sehen!"
"Ich danke dir, Marx", erwiderte sie, "ich wußte, daß du dieser Tage
kommen würdest."--Aber ihre Gedanken schienen nicht bei diesem
Willkommen zu sein; denn sie wandte die Augen sogleich wieder von
mir ab und begann auf dem Fußsteige weiterzugehen. "Begleite mich
noch ein wenig", fuhr sie fort, "wir gehen dann zusammen nach dem
Hof zurück."
"Aber es wird kalt, Anne Lene!"
"Oh, es ist nicht so kalt", sagte sie, indem sie das große Schaltuch fester
um die Schultern zog.--So gingen wir denn weiter. Ich suchte allerlei
Gespräch, aber keines wollte gelingen. Es wurde schon abendlich; ein
feuchter Nordwest wehte vom Meere über die Landschaft, und vor uns
auf dem Haffdeich sah man gegen den braunen Abendhimmel einzelne
Fuhrwerke wie Schattenspiel vorbeipassieren. Nach einer Weile
bemerkte ich einen Mann an der Seite des Deiches herabsteigen und
uns auf dem Fußwege entgegengehen. Es war der Postbote, der
zweimal in der Woche für die Hofbesitzer die Briefe aus der Stadt holte.
Ich fühlte, wie Anne Lene ihren Schritt beeilte, da er in unsre Nähe
kam. "Hast du etwas für mich, Carsten?" fragte sie und suchte dabei in
ihrer Stimme vergebens eine innere Unruhe zu verbergen.
Der Bote blätterte in seiner Ledertasche zwischen den Briefen umher.
"Für dieses Mal nicht, liebe Mamsell!" sagte er endlich mit einer
verlegenen Freundlichkeit, indem er die aufgehobene Klappe wieder
über seine Tasche fallen ließ. Er mochte ihr diese Antwort schon oft
gegeben haben. Anne Lene schwieg einen Augenblick. "Es ist gut,
Carsten", sagte sie dann, "du kannst erst mit uns gehen und Abendbrot
essen."--Sie schien das Ziel ihrer Wanderung erreicht zu haben; denn
sie kehrte bei diesen Worten um, und wir gingen mit dem Boten nach
dem Hofe zurück. Die Dämmerung war schon stark hereingebrochen.
Von dem Ackerstück, an welchem wir vorüberkamen, vernahm man
die kurzen Laute der Brachvögel, die unsichtbar in den Furchen lagen;
mitunter flog ein Kiebitz schreiend vor uns auf, und auf den Weiden
stand das Vieh in dunkeln, unkenntlichen Massen beisammen.--Wir

hatten auf dem Rückwege, als geschehe es im Einverständnis, kein
Wort miteinander gewechselt; als wir schon fast im Dunkeln auf der
Werfte angelangt waren, ergriff Anne Lene meine Hand. "Gute Nacht,
Marx", sagte sie, "verzeih mir; ich bin müde, ich muß schlafen; nicht
wahr, du kommst recht bald einmal wieder zu uns heraus!" Mit diesen
Worten trat sie in die Haustür, und bald hörte ich, wie sie die Treppe
nach ihrem Zimmer hinaufging.
Ich begab mich zu den alten Hofleuten, die in Gesellschaft des Boten
am warmen Ofen bei ihrem Abendtee saßen. Wieb entfernte sich für
einen Augenblick, um Anne Lene ein Licht hinaufzubringen; dann
nötigte sie mich, an ihrer Mahlzeit teilzunehmen, und ich mußte
erzählen und erzählen lassen. Darüber war es spät geworden, so daß ich
nicht mehr zur Stadt zurückkehren mochte. Ich bat meine alte Freundin,
mir eine Streu in ihrer Stube aufzuschütten, und schlenderte, während
dies geschah, in den Garten hinaus. Da ich in das Boskett an der
nördlichen Seite kam, bemerkte ich, daß Anne Lene noch Licht in
ihrem Zimmer habe. Ich lehnte mich an einen Baum und blickte hinauf.
Es schien alles still darinnen. Plötzlich aber entstand hinter den
Fenstern eine starke Helligkeit, die eine Zeitlang in die kahlen Büsche
des Gartens hinausleuchtete und dann allmählich wieder verschwand.
Mich überkam, während ich so im Dunkeln stand, eine unbestimmte
Besorgnis, und ohne mich
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