geweint, daß sie nicht viel davon
gehört hat, glaub' ich. Aber die Bibel war es doch, siehst Du. Sie fing
schon an zu weinen, als ich das Buch nur herauszog."
Die Knaben sahen einander an; vom Hof her klangen Hammerschläge
und in der Ferne eine Dampfpfeife; dann von der Gasse gegenüber das
leise Weinen eines Kindes. -- "Hat sie was gesagt?" -- "Sie sagte, sie
sei viel zu schlecht, um so was anzuhören, hat sie gesagt. Und ich
erklärte ihr, daß dem lieben Gott gerade die Geringsten die liebsten
wären. Sie tat aber, als höre sie das nicht, sondern sagte nur, ich solle
doch einmal beim Wäscher-Lars nachsehen, ob er daheim sei." --"Beim
Wäscher-Lars?" schrie Edvard, und Ole mußte wieder "Psst!" sagen;
der Wäscher-Lars war nämlich ihr guter Freund. -- "Du kannst mir's
glauben, der ist die ganze Zeit über furchtbar nett gewesen. Im
Wäscher-Lars steckt viel Gutes, das sagen alle. Jeden Abend kommt er
und hilft ihr. Heut Abend ist er früher gekommen als sonst, darum
konnt' ich gehen; sonst bleib' ich viel länger." -- "Hast Du ihr noch öfter
vorgelesen?" -- "Ja, heute wieder. Gleich fing sie wieder zu weinen an;
aber heute, glaub' ich, hat sie was gehört. Denn wie ich ihr das vom
verlorenen Sohn vorlas, sagte sie: ich bin ja woll eins von seinen
Schweinen!" -- Beide Jungens lachten. "Da sagt' ich denn, das glaubte
ich doch nicht. Dann wollte ich versuchen, zu beten. Ach, das nützt ja
doch alles nichts! sagte sie. Aber als ich dann das Vaterunser anfing,
wurde sie ganz verdreht, weißt Du, gerad' als ob sie sich fürchte, und
sie richtete sich auf und schrie, davon wolle sie nichts wissen --unter
keinen Umständen! Und dann legte sie sich wieder hin und heulte." --
"Es wurde also nichts?" -- "Nein, und dann kam der Wäscher-Lars, und
sie sagte, ich solle gehen. Aber siehst Du, wie es gewirkt hat? Glaubst
Du nicht, daß ich auf dem besten Wege bin?" -- Edvard war nicht so
ganz sicher.
Seine Bewunderung hatte augenscheinlich einen kleinen Knax
bekommen.
Bald darauf trennten sie sich.
2
In den höheren Schulen herrscht bisweilen ein Geist, der dem Geist der
Stadt, in der die Schule liegt, völlig entgegengesetzt ist; ja, in der Regel
steht die Schule in gewissen Stücken unter ganz selbständigen
Einwirkungen. Ein einziger Lehrer vermag die Schüler in seinem Bann
zu halten, ebenso wie es oft von einem Kameraden oder von ein paar
abhängt, ob unter den Knaben ein Geist der Ritterlichkeit oder das
Gegenteil, ein Geist des Gehorsams oder das Gegenteil herrscht. In der
Regel übernimmt irgend ein einzelner die Führung. Auch in sittlicher
Hinsicht ist das so. Die Knaben arten ihrem Vorbild nach, und meist
hat einer oder haben mehrere die Macht, als Vorbild zu wirken.
Gegenwärtig hatte der Primus Anders Hegge teilweise die Oberleitung
in Händen. Einen so gelehrten Schüler hatte die Schule seit ihrer
Gründung nicht gesehen; er war ein Jahr länger geblieben als nötig, nur
um der Schule den Glanz eines unzweifelhaften =prae ceteris= zu
verschaffen. Die Knaben waren unglaublich stolz auf ihn. Bewundernd
erzählten sie, wie er die Lehrer in der Gewalt habe, und daß er seine
Stunden nach eigenem Belieben wählen und kommen und gehen könne,
wie es ihm gerade passe. Meist arbeitete er für sich. Er besaß eine
Bibliothek, deren Regale längst die Wände so angefüllt hatten, daß sie
jetzt den Fußboden entlang krochen. Ein langer Bücherständer stand
auf jeder Seite des Sofas. Es gingen solche Wundergeschichten darüber
um, daß sogar die kleinsten Jungens ihn besuchen und mit eigenen
Augen sehen mußten. Und mitten drin, am Fenster, saß er selber und
rauchte, in einem bis auf die Füße reichenden Schlafrock, dem
Geschenk einer verheirateten Schwester, auf dem Kopf eine Samtmütze
mit Goldquaste, das Geschenk einer Tante, an den Füßen gestickte
Pantoffeln, das Geschenk einer Patin. Er war ein Damenprodukt --
wohnte bei seiner verwitweten Mutter, und fünf ältliche Verwandte
bezahlten seine Bücher, kleideten ihn und versahen ihn mit
Taschengeld.
Ein großer, kräftiger Bursche mit einem regelmäßigen,
feingeschnittenen Gesicht, dem Gesicht eines alten Geschlechts. Es
wäre schön gewesen, wenn es nicht Glotzaugen und einen gierigen und
lauernden Ausdruck gehabt hätte. Ähnlich sein wohlgebauter Körper:
er hätte einen stattlichen Eindruck gemacht, wenn er nicht vornüber
gebückt gegangen wäre, als drücke eine Last seinen Rücken, und einen
ungleichmäßigen Gang gehabt hätte. Hände und Füße waren zierlich; er
konnte nicht leiden, wenn man ihn anrührte, war verfroren und
zimperlich und hatte einen durchaus weiblichen Geschmack.
Alles, was ihm einmal gesagt worden war, behielt er, Großes und
Kleines, ohne Unterschied; oder wenn ein Unterschied war, so bestand
er darin, daß das Kleine ihm das wichtigste war. Wenige Dinge
entgingen ihm; sachte und nicht ohne eine Art Kunst stahl er sich in das
Vertrauen eines Menschen. Er kannte die Familiengeschichten aus dem
ganzen Land, auch solche aus fremden Ländern
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