Ãœber Psychoanalyse | Page 8

Sigmund Freud

Man konnte sich aber auch die Frage vorlegen, welches diese Kräfte
und welche die Bedingungen der Verdrängung seien, in der wir nun
den pathogenen Mechanismus der Hysterie erkennen. Eine
vergleichende Untersuchung der pathogenen Situationen, die man
durch die kathartische Behandlung kennen gelernt hatte, gestattete
hierauf Antwort zu geben. Bei all diesen Erlebnissen hatte es sich
darum gehandelt, daß eine Wunschregung aufgetaucht war, welche in
scharfem Gegensatze zu den sonstigen Wünschen des Individuums
stand, sich als unverträglich mit den ethischen und ästhetischen
Ansprüchen der Persönlichkeit erwies. Es hatte einen kurzen Konflikt
gegeben, und das Ende dieses inneren Kampfes war, daß die
Vorstellung, welche als der Träger jenes unvereinbaren Wunsches vor

dem Bewußtsein auftrat, der Verdrängung anheimfiel und mit den zu
ihr gehörigen Erinnerungen aus dem Bewußtsein gedrängt und
vergessen wurde. Die Unverträglichkeit der betreffenden Vorstellung
mit dem Ich des Kranken war also das Motiv der Verdrängung; die
ethischen und anderen Anforderungen des Individuums waren die
verdrängenden Kräfte. Die Annahme der unverträglichen
Wunschregung oder die Fortdauer des Konflikts hätten hohe Grade von
Unlust hervorgerufen; diese Unlust wurde durch die Verdrängung
erspart, die sich in solcher Art als eine der Schutzvorrichtungen der
seelischen Persönlichkeit erwies.
Ich will Ihnen anstatt vieler einen einzigen meiner Fälle erzählen, in
welchem Bedingungen und Nutzen der Verdrängung deutlich genug zu
erkennen sind. Freilich muß ich für meinen Zweck auch diese
Krankengeschichte verkürzen und wichtige Voraussetzungen derselben
bei Seite lassen. Ein junges Mädchen, welches kurz vorher den
geliebten Vater verloren hatte, an dessen Pflege sie beteiligt gewesen
war -- eine Situation analog der bei der Patientin Breuers --, brachte,
als ihre ältere Schwester sich verheiratete, dem neuen Schwager eine
besondere Sympathie entgegen, die sich leicht als verwandtschaftliche
Zärtlichkeit maskieren konnte. Diese Schwester erkrankte bald und
starb, während die Patientin mit ihrer Mutter abwesend war. Die
Abwesenden wurden eiligst zurückgerufen, ohne in sichere Kenntnis
des schmerzlichen Ereignisses gesetzt zu werden. Als das Mädchen an
das Bett der toten Schwester trat, tauchte für einen kurzen Moment eine
Idee in ihr auf, die sich etwa in den Worten ausdrücken ließe: Jetzt ist
er frei und kann mich heiraten. Wir dürfen als sicher annehmen, daß
diese Idee, welche die ihr selbst nicht bewußte intensive Liebe zum
Schwager ihrem Bewußtsein verriet, durch den Aufruhr ihrer Gefühle
im nächsten Moment der Verdrängung überliefert wurde. Das Mädchen
erkrankte an schweren hysterischen Symptomen, und als ich sie in
Behandlung genommen hatte, stellte es sich heraus, daß sie jene Szene
am Bette der Schwester und die in ihr auftretende häßlich-egoistische
Regung gründlich vergessen hatte. Sie erinnerte sich daran in der
Behandlung, reproduzierte den pathogenen Moment unter den
Anzeichen heftigster Gemütsbewegung und wurde durch diese
Behandlung gesund.

Vielleicht darf ich Ihnen den Vorgang der Verdrängung und deren
notwendige Beziehung zum Widerstand durch ein grobes Gleichnis
veranschaulichen, das ich gerade aus unserer gegenwärtigen Situation
herausgreifen will. Nehmen Sie an, hier in diesem Saale und in diesem
Auditorium, dessen musterhafte Ruhe und Aufmerksamkeit ich nicht
genug zu preisen weiß, befände sich doch ein Individuum, welches sich
störend benimmt und durch sein ungezogenes Lachen, Schwätzen,
Scharren mit den Füßen meine Aufmerksamkeit von meiner Aufgabe
abzieht. Ich erkläre, daß ich so nicht weiter vortragen kann, und
daraufhin erheben sich einige kräftige Männer unter Ihnen und setzen
den Störenfried nach kurzem Kampfe vor die Tür. Er ist also jetzt
»verdrängt« und ich kann meinen Vortrag fortsetzen. Damit aber die
Störung sich nicht wiederhole, wenn der Herausgeworfene versucht,
wieder in den Saal einzudringen, rücken die Herren, welche meinen
Willen zur Ausführung gebracht haben, ihre Stühle an die Türe an und
etablieren sich so als »Widerstand« nach vollzogener Verdrängung.
Wenn Sie nun noch die beiden Lokalitäten hier als das »Bewußte« und
das »Unbewußte« aufs Psychische übertragen, so haben Sie eine
ziemlich gute Nachbildung des Vorgangs der Verdrängung vor sich.
Sie sehen nun, worin der Unterschied unserer Auffassung von der
Janetschen gelegen ist. Wir leiten die psychische Spaltung nicht von
einer angeborenen Unzulänglichkeit zur Synthese des seelischen
Apparats ab, sondern erklären sie dynamisch durch den Konflikt
widerstreitender Seelenkräfte, erkennen in ihr das Ergebnis eines
aktiven Sträubens der beiden psychischen Gruppierungen
gegeneinander. Aus unserer Auffassung erheben sich nun neue
Fragestellungen in großer Anzahl. Die Situation des psychischen
Konflikts ist ja eine überaus häufige, ein Bestreben des Ichs, sich
peinlicher Erinnerung zu erwehren, wird ganz regelmäßig beobachtet,
ohne daß es zum Ergebnis einer seelischen Spaltung führt. Man kann
den Gedanken nicht abweisen, daß es noch anderer Bedingungen
bedarf, wenn der Konflikt die Dissoziation zur Folge haben soll. Ich
gebe Ihnen auch gern zu, daß wir mit der Annahme der Verdrängung
nicht am Ende, sondern erst am Anfang einer psychologischen Theorie
stehen, aber wir können nicht anders als schrittweise vorrücken und
müssen die Vollendung der Erkenntnis weiterer und tiefer

eindringender Arbeit überlassen.
Unterlassen Sie auch den Versuch, den Fall der Patientin Breuers unter
die Gesichtspunkte der Verdrängung zu bringen. Diese
Krankengeschichte eignet sich
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