sehen, wir sind im Begriffe, zu einer rein psychologischen Theorie
der Hysterie zu gelangen, in welcher wir den Affektvorgängen den
ersten Rang anweisen. Eine zweite Beobachtung Breuers nötigt uns
nun, in der Charakteristik des krankhaften Geschehens den
Bewußtseinszuständen eine große Bedeutung einzuräumen. Die Kranke
Breuers zeigte mannigfaltige seelische Verfassungen, Zustände von
Abwesenheit, Verworrenheit und Charakterveränderung neben ihrem
Normalzustand. Im Normalzustand wußte sie nun nichts von jenen
pathogenen Szenen und von deren Zusammenhang mit ihren
Symptomen; sie hatte diese Szenen vergessen oder jedenfalls den
pathogenen Zusammenhang zerrissen. Wenn man sie in die Hypnose
versetzte, gelang es nach Aufwendung beträchtlicher Arbeit, ihr diese
Szenen ins Gedächtnis zurückzurufen, und durch diese Arbeit des
Wiedererinnerns wurden die Symptome aufgehoben. Man wäre in
großer Verlegenheit, wie man diese Tatsache deuten sollte, wenn nicht
die Erfahrungen und Experimente des Hypnotismus den Weg dazu
gewiesen hätten. Durch das Studium der hypnotischen Phänomene hat
man sich an die anfangs befremdliche Auffassung gewöhnt, daß in
einem und demselben Individuum mehrere seelische Gruppierungen
möglich sind, die ziemlich unabhängig von einander bleiben können,
von einander »nichts wissen«, und die das Bewußtsein alternierend an
sich reißen. Fälle solcher Art, die man als »Double conscience«
bezeichnet, kommen gelegentlich auch spontan zur Beobachtung.
Wenn bei solcher Spaltung der Persönlichkeit das Bewußtsein konstant
an den einen der beiden Zustände gebunden bleibt, so heißt man diesen
den bewußten Seelenzustand, den von ihm abgetrennten den
unbewußten. In den bekannten Phänomenen der sogenannten
posthypnotischen Suggestion, wobei ein in der Hypnose gegebener
Auftrag sich später im Normalzustand gebieterisch durchsetzt, hat man
ein vorzügliches Vorbild für die Beeinflussungen, die der bewußte
Zustand durch den für ihn unbewußten erfahren kann, und nach diesem
Muster gelingt es allerdings, sich die Erfahrungen bei der Hysterie
zurechtzulegen. Breuer entschloß sich zur Annahme, daß die
hysterischen Symptome in solchen besonderen seelischen Zuständen,
die er hypnoide nannte, entstanden seien. Erregungen, die in solche
hypnoide Zustände hineingeraten, werden leicht pathogen, weil diese
Zustände nicht die Bedingungen für einen normalen Ablauf der
Erregungsvorgänge bieten. Es entsteht also aus dem Erregungsvorgang
ein ungewöhnliches Produkt, eben das Symptom, und dieses ragt wie
ein Fremdkörper in den Normalzustand hinein, dem dafür die Kenntnis
der hypnoiden pathogenen Situation abgeht. Wo ein Symptom besteht,
da findet sich auch eine Amnesie, eine Erinnerungslücke, und die
Ausfüllung dieser Lücke schließt die Aufhebung der
Entstehungsbedingungen des Symptoms in sich ein.
Ich fürchte, daß Ihnen dieses Stück meiner Darstellung nicht sehr
durchsichtig erschienen ist. Aber haben Sie Nachsicht, es handelt sich
um neue und schwierige Anschauungen, die vielleicht nicht viel klarer
gemacht werden können; ein Beweis dafür, daß wir mit unserer
Erkenntnis noch nicht sehr weit vorgedrungen sind. Die Breuersche
Aufstellung der hypnoiden Zustände hat sich übrigens als hemmend
und überflüssig erwiesen und ist von der heutigen Psychoanalyse fallen
gelassen worden. Sie werden später wenigstens andeutungsweise hören,
welche Einflüsse und Vorgänge hinter der von Breuer aufgestellten
Schranke der hypnoiden Zustände zu entdecken waren. Sie werden
auch mit Recht den Eindruck empfangen haben, daß die Breuersche
Forschung Ihnen nur eine sehr unvollständige Theorie und
unbefriedigende Aufklärung der beobachteten Erscheinungen geben
konnte, aber vollkommene Theorien fallen nicht vom Himmel, und Sie
werden mit noch größerem Recht mißtrauisch sein, wenn Ihnen jemand
eine lückenlose und abgerundete Theorie bereits zu Anfang seiner
Beobachtungen anbietet. Eine solche wird gewiß nur das Kind seiner
Spekulation sein können und nicht die Frucht voraussetzungsloser
Erforschung des Tatsächlichen.
II.
Meine Damen und Herren! Etwa gleichzeitig, während Breuer mit
seiner Patientin die Talking cure übte, hatte Meister Charcot in Paris
jene Untersuchungen über die Hysterischen der Salpêtrière begonnen,
von denen ein neues Verständnis der Krankheit ausgehen sollte. Diese
Resultate konnten damals in Wien noch nicht bekannt sein. Als aber
etwa ein Dezennium später Breuer und ich die vorläufige Mitteilung
über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene
veröffentlichten, welche an die kathartische Behandlung bei Breuers
erster Patientin anknüpfte, da befanden wir uns ganz im Banne der
Charcotschen Forschungen. Wir stellten die pathogenen Erlebnisse
unserer Kranken als psychische Traumen jenen körperlichen Traumen
gleich, deren Einfluß auf hysterische Lähmungen Charcot festgestellt
hatte, und Breuers Aufstellung der hypnoiden Zustände ist selbst nichts
anderes als ein Reflex der Tatsache, daß Charcot jene traumatischen
Lähmungen in der Hypnose künstlich reproduziert hatte.
Der große französische Beobachter, dessen Schüler ich 1885/86 wurde,
war selbst psychologischen Auffassungen nicht geneigt; erst sein
Schüler P. Janet versuchte ein tieferes Eindringen in die besonderen
psychischen Vorgänge bei der Hysterie, und wir folgten seinem
Beispiele, als wir die seelische Spaltung und den Zerfall der
Persönlichkeit in das Zentrum unserer Auffassung rückten. Sie finden
bei Janet eine Theorie der Hysterie, welche den in Frankreich
herrschenden Lehren über die Rolle der Erblichkeit und der
Degeneration Rechnung trägt. Die Hysterie ist nach ihm eine Form der
degenerativen Veränderung des Nervensystems, welche sich durch eine
angeborene Schwäche der psychischen Synthese kundgibt. Die
hysterisch Kranken seien von Anfang an unfähig, die Mannigfaltigkeit
der seelischen Vorgänge zu einer Einheit
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