Ãœber Psychoanalyse | Page 5

Sigmund Freud
Jahrhundert,
der den Leichnam seiner geliebten Königin Eleanor nach Westminster
überführen ließ, errichtete gotische Kreuze an jeder der Stationen, wo
der Sarg niedergestellt wurde, und Charing Cross ist das letzte der
Denkmäler, welche die Erinnerung an diesen Trauerzug erhalten
sollten.[9] An einer anderen Stelle der Stadt, nicht weit von London
Bridge, erblicken Sie eine modernere hochragende Säule, die kurzweg
»The Monument« genannt wird. Sie soll zur Erinnerung an das große
Feuer mahnen, welches im Jahre 1666 dort in der Nähe ausbrach und
einen großen Teil der Stadt zerstörte. Diese Monumente sind also
Erinnerungssymbole wie die hysterischen Symptome, soweit scheint
die Vergleichung berechtigt. Aber was würden Sie zu einem Londoner
sagen, der heute noch vor dem Denkmal des Leichenzuges der Königin
Eleanor in Wehmut stehen bliebe, anstatt mit der von den modernen
Arbeitsverhältnissen geforderten Eile seinen Geschäften nachzugehen
oder sich der eigenen jugendfrischen Königin seines Herzens zu
erfreuen? Oder zu einem anderen, der vor dem »Monument« die
Einäscherung seiner geliebten Vaterstadt beweinte, die doch seither
längst soviel glänzender wiedererstanden ist? So wie diese beiden
unpraktischen Londoner benehmen sich aber die Hysterischen und
Neurotiker alle; nicht nur, daß sie die längst vergangenen
schmerzlichen Erlebnisse erinnern, sie hängen noch affektvoll an ihnen,
sie kommen von der Vergangenheit nicht los und vernachlässigen für
sie die Wirklichkeit und die Gegenwart. Diese Fixierung des
Seelenlebens an die pathogenen Traumen ist einer der wichtigsten und
praktisch bedeutsamsten Charaktere der Neurose.
[9] Vielmehr die spätere Nachbildung eines solchen Denkmals. Der
Name Charing selbst soll, wie mir Dr. E. Jones mitteilte, aus den
Worten Chère reine hervorgegangen sein.
Ich gebe Ihnen gern den Einwand zu, den Sie jetzt wahrscheinlich

bilden, indem Sie an die Krankengeschichte der Breuerschen Patientin
denken. Alle ihre Traumen entstammten ja der Zeit, da sie den kranken
Vater pflegte, und ihre Symptome können nur als Erinnerungszeichen
für seine Krankheit und seinen Tod aufgefaßt werden. Sie entsprechen
also einer Trauer, und eine Fixierung an das Andenken des
Verstorbenen ist so kurze Zeit nach dem Ableben desselben gewiß
nichts Pathologisches, entspricht vielmehr einem normalen
Gefühlsvorgang. Ich gestehe Ihnen dieses zu; die Fixierung an die
Traumen ist bei der Patientin Breuers nichts Auffälliges. Aber in
anderen Fällen, wie in dem von mir behandelten Tic, dessen
Veranlassungen um mehr als fünfzehn und zehn Jahre zurücklagen, ist
der Charakter des abnormen Haftens am Vergangenen sehr deutlich,
und die Patientin Breuers hätte ihn wahrscheinlich gleichfalls
entwickelt, wenn sie nicht so kurze Zeit nach dem Erleben der Traumen
und der Entstehung der Symptome zur kathartischen Behandlung
gekommen wäre.
Wir haben bisher nur die Beziehung der hysterischen Symptome zur
Lebensgeschichte der Kranken erörtert; aus zwei weiteren Momenten
der Breuerschen Beobachtung können wir aber auch einen Hinweis
darauf gewinnen, wie wir den Vorgang der Erkrankung und der
Wiederherstellung aufzufassen haben. Fürs erste ist hervorzuheben, daß
die Kranke Breuers fast in allen pathogenen Situationen eine starke
Erregung zu unterdrücken hatte, anstatt ihr durch die entsprechenden
Affektzeichen, Worte und Handlungen, Ablauf zu ermöglichen. In dem
kleinen Erlebnis mit dem Hund ihrer Gesellschafterin unterdrückte sie
aus Rücksicht auf diese jede Äußerung ihres sehr intensiven Ekels;
während sie am Bette des Vaters wachte, trug sie beständig Sorge, den
Kranken nichts von ihrer Angst und ihrer schmerzlichen Verstimmung
merken zu lassen. Als sie später diese selben Szenen vor ihrem Arzt
reproduzierte, trat der damals gehemmte Affekt mit besonderer
Heftigkeit, als ob er sich solange aufgespart hätte, auf. Ja, das
Symptom, welches von dieser Szene erübrigt war, gewann seine
höchste Intensität, während man sich seiner Verursachung näherte, um
nach der völligen Erledigung derselben zu verschwinden. Anderseits
konnte man die Erfahrung machen, daß das Erinnern der Szene beim
Arzte wirkungslos blieb, wenn es aus irgend einem Grunde einmal

ohne Affektentwicklung ablief. Die Schicksale dieser Affekte, die man
sich als verschiebbare Größen vorstellen konnte, waren also das
Maßgebende für die Erkrankung wie für die Wiederherstellung. Man
sah sich zur Annahme gedrängt, daß die Erkrankung darum zu stande
kam, weil den in den pathogenen Situationen entwickelten Affekten ein
normaler Ausweg versperrt war, und daß das Wesen der Erkrankung
darin bestand, daß nun diese »eingeklemmten« Affekte einer abnormen
Verwendung unterlagen. Zum Teil blieben sie als dauernde
Belastungen des Seelenlebens und Quellen beständiger Erregung für
dasselbe bestehen; zum Teil erfuhren sie eine Umsetzung in
ungewöhnliche körperliche Innervationen und Hemmungen, die sich als
die körperlichen Symptome des Falles darstellten. Wir haben für diesen
letzteren Vorgang den Namen der »hysterischen Konversion« geprägt.
Ein gewisser Anteil unserer seelischen Erregung wird ohnedies
normalerweise auf die Wege der körperlichen Innervation geleitet und
ergibt das, was wir als »Ausdruck der Gemütsbewegungen« kennen.
Die hysterische Konversion übertreibt nun diesen Anteil des Ablaufs
eines mit Affekt besetzten seelischen Vorganges; sie entspricht einem
weit intensiveren, auf neue Bahnen geleiteten Ausdruck der
Gemütsbewegung. Wenn ein Strombett in zwei Kanälen fließt, so wird
eine Überfüllung des einen stattfinden, sobald die Strömung in dem
anderen auf ein Hindernis stößt.
Sie
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