entgegenbringen wie dem letzteren, da sein Leiden weit weniger
ernsthaft ist und doch den Anspruch zu erheben scheint, für ebenso
ernsthaft zu gelten. Aber es wirkt noch anderes mit. Der Arzt, der durch
sein Studium so vieles kennen gelernt hat, was dem Laien verschlossen
ist, hat sich von den Krankheitsursachen und Krankheitsveränderungen,
z. B. im Gehirn eines an Apoplexie oder Neubildung Leidenden
Vorstellungen bilden können, die bis zu einem gewissen Grade
zutreffend sein müssen, da sie ihm das Verständnis der Einzelheiten des
Krankheitsbildes gestatten. Vor den Details der hysterischen
Phänomene läßt ihn aber all sein Wissen, seine
anatomisch-physiologische und pathologische Vorbildung im Stiche.
Er kann die Hysterie nicht verstehen, er steht ihr selbst wie ein Laie
gegenüber. Und das ist nun niemandem recht, der sonst auf sein Wissen
so große Stücke hält. Die Hysterischen gehen also seiner Sympathie
verlustig; er betrachtet sie wie Personen, welche die Gesetze seiner
Wissenschaft übertreten, wie die Rechtgläubigen die Ketzer ansehen; er
traut ihnen alles mögliche Böse zu, beschuldigt sie der Übertreibung
und der absichtlichen Täuschung, Simulation; und er bestraft sie durch
die Entziehung seines Interesses.
Diesen Vorwurf hat nun Dr. Breuer bei seiner Patientin nicht verdient;
er schenkte ihr Sympathie und Interesse, obwohl er ihr anfangs nicht zu
helfen verstand. Wahrscheinlich erleichterte sie es ihm auch durch die
vorzüglichen Geistes- und Charaktereigenschaften, für die er in der von
ihm abgefaßten Krankengeschichte Zeugnis ablegt. Seine liebevolle
Beobachtung fand auch bald den Weg, der die erste Hilfeleistung
ermöglichte.
Es war bemerkt worden, daß die Kranke in ihren Zuständen von
Absenz, psychischer Alteration mit Verworrenheit, einige Worte vor
sich hin zu murmeln pflegte, welche den Eindruck machten, als
stammten sie aus einem Zusammenhange, der ihr Denken beschäftige.
Der Arzt, der sich diese Worte berichten ließ, versetzte sie nun in eine
Art von Hypnose und sagte ihr jedesmal diese Worte wieder vor, um
sie zu veranlassen, daß sie an dieselben anknüpfe. Die Kranke ging
darauf ein und reproduzierte so vor dem Arzt die psychischen
Schöpfungen, die sie während der Absenzen beherrscht und sich in
jenen vereinzelt geäußerten Worten verraten hatten. Es waren
tieftraurige, oft poetisch schöne Phantasien, Tagträume würden wir
sagen, die gewöhnlich die Situation eines Mädchens am Krankenbett
seines Vaters zum Ausgangspunkt nahmen. Hatte sie eine Anzahl
solcher Phantasien erzählt, so war sie wie befreit und ins normale
seelische Leben zurückgeführt. Das Wohlbefinden, das durch mehrere
Stunden anhielt, wich dann am nächsten Tage einer neuerlichen Absenz,
welche auf dieselbe Weise durch Aussprechen der neu gebildeten
Phantasien aufgehoben wurde. Man konnte sich dem Eindrucke nicht
entziehen, daß die psychische Veränderung, die sich in den Absenzen
äußerte, eine Folge des Reizes sei, der von diesen höchst affektvollen
Phantasiebildungen ausging. Die Patientin selbst, die um diese Zeit
ihres Krankseins merkwürdigerweise nur Englisch sprach und verstand,
gab dieser neuartigen Behandlung den Namen »talking cure« oder
bezeichnete sie scherzhaft als »chimney sweeping«.
Es ergab sich bald wie zufällig, daß man durch solches Reinfegen der
Seele noch mehr erreichen könne als vorübergehende Beseitigung der
immer wiederkehrenden seelischen Trübungen. Es ließen sich auch
Leidenssymptome zum Verschwinden bringen, wenn in der Hypnose
unter Affektäußerung erinnert wurde, bei welchem Anlaß und kraft
welches Zusammenhanges diese Symptome zuerst aufgetreten waren.
»Es war im Sommer eine Zeit intensiver Hitze gewesen und Patientin
hatte sehr arg durch Durst gelitten; denn, ohne einen Grund angeben zu
können, war ihr plötzlich unmöglich geworden, zu trinken. Sie nahm
das ersehnte Glas Wasser in die Hand, aber sowie es die Lippen
berührte, stieß sie es weg wie ein Hydrophobischer. Dabei war sie
offenbar für diese paar Sekunden in einer Absenz. Sie lebte nur von
Obst, Melonen u. dgl., um den qualvollen Durst zu mildem. Als das
etwa sechs Wochen gedauert hatte, räsonierte sie einmal in der
Hypnose über ihre englische Gesellschafterin, die sie nicht liebte, und
erzählte dann mit allen Zeichen des Abscheus, wie sie auf deren
Zimmer gekommen sei, und da deren kleiner Hund, das ekelhafte Tier,
aus einem Glas getrunken habe. Sie habe nichts gesagt, denn sie wollte
höflich sein. Nachdem sie ihrem steckengebliebenen Ärger noch
energisch Ausdruck gegeben, verlangte sie zu trinken, trank ohne
Hemmung eine große Menge Wasser und erwachte aus der Hypnose
mit dem Glas an den Lippen. Die Störung war damit für immer
verschwunden.«[4]
[4] Studien über Hysterie, 2. Aufl., p. 26.
Gestatten Sie, daß ich Sie bei dieser Erfahrung einen Moment aufhalte!
Niemand hatte noch ein hysterisches Symptom durch solche Mittel
beseitigt und war dabei so tief in das Verständnis seiner Verursachung
eingedrungen. Es mußte eine folgenschwere Entdeckung werden, wenn
sich die Erwartung bestätigen ließ, daß noch andere, daß vielleicht die
Mehrzahl der Symptome bei der Kranken auf solche Weise entstanden
und auf solche Weise aufzuheben war. Breuer scheute die Mühe nicht,
sich davon zu überzeugen, und forschte nun planmäßig der
Pathogenese der anderen und ernsteren Leidenssymptome nach. Es war
wirklich so; fast alle Symptome waren so entstanden
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