einen Überblick über die Geschichte der
Entstehung und weiteren Fortbildung dieser neuen Untersuchungs- und
Heilmethode zu geben.
Wenn es ein Verdienst ist, die Psychoanalyse ins Leben gerufen zu
haben, so ist es nicht mein Verdienst. Ich bin an den ersten Anfängen
derselben nicht beteiligt gewesen. Ich war Student und mit der
Ablegung meiner letzten Prüfungen beschäftigt, als ein anderer Wiener
Arzt, Dr. Josef Breuer,[1] dieses Verfahren zuerst an einem hysterisch
erkrankten Mädchen anwendete (1880-1882). Mit dieser Kranken- und
Behandlungsgeschichte wollen wir uns nun zunächst beschäftigen. Sie
finden dieselbe ausführlich dargestellt in den später von Breuer und mir
veröffentlichten »Studien über Hysterie«.[2]
[1] Dr. Josef Breuer, geb. 1842, korrespondierendes Mitglied der k.
Akademie der Wissenschaften, bekannt durch Arbeiten über die
Atmung und zur Physiologie des Gleichgewichtssinnes.
[2] Studien über Hysterie. 1895. Fr. Deuticke, Wien, 2. Aufl., 1909.
Stücke meines Anteils an diesem Buch sind von Dr. A. A. Brill in New
York ins Englische übertragen worden (Selected papers on Hysteria
and other Psychoneuroses by S. Freud, Nr. 4 der »Nervous and Mental
Disease Monograph Series«, New York).
Vorher nur noch eine Bemerkung. Ich habe nicht ohne Befriedigung
erfahren, daß die Mehrzahl meiner Zuhörer nicht dem ärztlichen Stande
angehört. Besorgen Sie nun nicht, daß es besonderer ärztlicher
Vorbildung bedarf, um meinen Mitteilungen zu folgen. Wir werden
allerdings ein Stück weit mit den Ärzten gehen, aber bald werden wir
uns absondern und Dr. Breuer auf einen ganz eigenartigen Weg
begleiten.
Dr. Breuers Patientin, ein 21jähriges, geistig hochbegabtes Mädchen,
entwickelte im Verlaufe ihrer über zwei Jahre ausgedehnten Krankheit
eine Reihe von körperlichen und seelischen Störungen, die es wohl
verdienten, ernst genommen zu werden. Sie hatte eine steife Lähmung
der beiden rechtsseitigen Extremitäten mit Unempfindlichkeit
derselben, zeitweise dieselbe Affektion an den Gliedern der linken
Körperseite, Störungen der Augenbewegungen und mannigfache
Beeinträchtigungen des Sehvermögens, Schwierigkeiten der
Kopfhaltung, eine intensive Tussis nervosa, Ekel vor
Nahrungsaufnahme und einmal durch mehrere Wochen eine
Unfähigkeit zu trinken trotz quälenden Durstes, eine Herabsetzung des
Sprachvermögens, die bis zum Verlust der Fähigkeit fortschritt, ihre
Muttersprache zu sprechen oder zu verstehen, endlich Zustände von
Abwesenheit, Verworrenheit, Delirien, Alteration ihrer ganzen
Persönlichkeit, denen wir unsere Aufmerksamkeit später werden
zuwenden müssen.
Wenn Sie von einem solchen Krankheitsbilde hören, so werden Sie,
auch ohne Ärzte zu sein, der Annahme zuneigen, daß es sich um ein
schweres Leiden, wahrscheinlich des Gehirns, handle, welches wenig
Aussicht auf Herstellung biete und zur baldigen Auflösung der Kranken
führen dürfte. Lassen Sie sich indes von den Ärzten belehren, daß für
eine Reihe von Fällen mit so schweren Erscheinungen eine andere und
weitaus günstigere Auffassung berechtigter ist. Wenn ein solches
Krankheitsbild bei einem jugendlichen weiblichen Individuum auftritt,
dessen lebenswichtige innere Organe (Herz, Niere) sich der objektiven
Untersuchung normal erweisen, das aber heftige gemütliche
Erschütterungen erfahren hat, und wenn die einzelnen Symptome in
gewissen feineren Charakteren von der Erwartung abweichen, dann
nehmen die Ärzte einen solchen Fall nicht zu schwer. Sie behaupten,
daß dann nicht ein organisches Leiden des Gehirns vorliegt, sondern
jener rätselhafte, seit den Zeiten der griechischen Medizin Hysterie
benannte Zustand, der eine ganze Anzahl von Bildern ernster
Erkrankung vorzutäuschen vermöge. Sie halten dann das Leben für
nicht bedroht und eine selbst vollkommene Herstellung der Gesundheit
für wahrscheinlich. Die Unterscheidung einer solchen Hysterie von
einem schweren organischen Leiden ist nicht immer sehr leicht. Wir
brauchen aber nicht zu wissen, wie eine Differentialdiagnose dieser Art
gemacht wird; uns mag die Versicherung genügen, daß gerade der Fall
von Breuers Patientin ein solcher ist, bei dem kein kundiger Arzt die
Diagnose der Hysterie verfehlen wird. Wir können auch an dieser Stelle
aus dem Krankheitsbericht nachtragen, daß ihre Erkrankung auftrat,
während sie ihren zärtlich geliebten Vater in seiner schweren, zum
Tode führenden Krankheit pflegte, und daß sie infolge ihrer eigenen
Erkrankung von der Pflege zurücktreten mußte.
Soweit hat es uns Vorteil gebracht, mit den Ärzten zu gehen, und nun
werden wir uns bald von ihnen trennen. Sie dürfen nämlich nicht
erwarten, daß die Aussicht eines Kranken auf ärztliche Hilfeleistung
dadurch wesentlich gesteigert wird, daß die Diagnose der Hysterie an
die Stelle des Urteils auf ernste organische Hirnaffektion tritt. Gegen
die schweren Erkrankungen des Gehirns ist die ärztliche Kunst in den
meisten Fällen ohnmächtig, aber auch gegen die hysterische Affektion
weiß der Arzt nichts zu tun. Er muß es der gütigen Natur überlassen,
wann und wie sie seine hoffnungsvolle Prognose verwirklichen will.[3]
[3] Ich weiß, daß diese Behauptung heute nicht mehr zutrifft, aber im
Vortrage versetze ich mich und meine Hörer zurück in die Zeit vor
1880. Wenn es seither anders geworden ist, so haben gerade die
Bemühungen, deren Geschichte ich skizziere, daran einen großen
Anteil.
Mit der Erkennung der Hysterie wird also für den Kranken wenig
geändert; desto mehr ändert sich für den Arzt. Wir können beobachten,
daß er sich gegen den hysterischen ganz anders einstellt als gegen den
organisch Kranken. Er will dem ersteren nicht dieselbe Teilnahme
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