welche die Schwester so
plötzlich wieder verschwunden war, übrig haben.
»Herr Jesus!« sagte er; und dann versuchte er es von neuem, sich ruhig
zu setzen, allein es wollte nicht angehen. Das bedeutungsvolle Datum
brannte wie in feurigen Ziffern und Buchstaben vor seinen Augen, und
so schob er denn den Stuhl unter den Tisch und schlurfte, immerfort
den Kopf schüttelnd, in seiner Bildergalerie auf und ab; und immer
klarer und deutlicher stieg die Welt, welche vor dreißig Jahren, vor
einem Menschenalter, war, in seiner Seele empor. Ja, von seiner
frühesten Kindheit an lag mit einem Mal alles in den schärfsten
Umrissen vor ihm, und nur seine ihm allzu früh gestorbenen Eltern
durchzogen schemenhaft die helle Landschaft. Dagegen stand der
Vormund in derber, ungemütlicher Deutlichkeit in dem Zauberlicht und
in der Mitte der Scenerie jener kleinen Provinzialstadt jenseits des
Gebirges, dem Thüringerlande zu, mit dem Kyffhäuser in der Nähe und
dem Kickelhahn in der blauen magischen Ferne.
»Der allergewöhnlichste Mensch hat doch immer etwas erlebt, wenn er
so ein Menschenalter über ein Menschenalter hinaus zurückdenken
kann,« murmele der Alte. »Wie lebendig das nun alles ist, was eben tot
und vergessen in meiner Seele lag. Da ist ja der alte Biedermann, der
Grauwacker, mein Lehrherr, mit seinem ganzen Haus und Hauswesen.
Welch ein schnurriger, verbissener Patron er war; und dann die
Patronin, ich meine die Frau Prinzipalin. Herrgott, wie sorgst du in
deiner Güte und Weisheit dafür, daß denen, welchen du einen kleinen
Löffel auf den Lebensweg mitgiebst, auch der Brei nach dem richtigen
Maße zugemessen wird! Ist es mir doch, als verspürte ich heute noch
das Magenknurren aus jener guten, alten Zeit unter dem Zwerchfell.
Und es war doch eine glückliche, gesunde Zeit! Und gelernt hat man
auch das Seinige bei dem alten Grauwacker; man muß es ihm lassen, er
verstand das Geschäft, die Kunst, und er wußte uns darin zurecht zu
schütteln. Alles, was nachher kam --«
Die Glocke der Offizin klingelte von neuem; abermals ging der
Apotheker in seine Werkstatt zu seiner Arbeit, die diesmal etwas länger
als vorhin dauerte. Während er seinen Trank mischte und kochte, führte
er im landläufigen Dialekt eine Unterhaltung, die wir dem Leser nicht
vorenthalten wollen, die Mundart freilich abgerechnet.
»Ihr habt euch bei einem schlimmen Wetter auf den Weg machen
müssen, Gevatterin. Es steht wohl gar nicht gut zu Hause?«
»Wie mit dem Wetter draußen,« sagte das frische, sehr gesunde
Bauerweiblein verdrossen. »Man hat seine liebe Not, daß man sich
darüber selber gern vom Tage thun möchte. Er kann nicht leben und
will nicht sterben; -- ich glaube, er hält sich eben durch das Ärgernis,
welches er uns macht; -- recht machen kann man ihm gar nichts mehr,
und von dem Verdruß lebt er so hin von einem Tage zum andern.«
»Hm, hm,« brummte Herr Philipp.
»Ja, es ist doch so, und der Doktor zieht dann das Beste davon. Das
Ding hat er gestern Abend verschrieben, und es ist uns sehr eilig
gemacht; ich meine aber, Sie wissen es am besten, Herr Kristeller, daß
kein Tag vergeht, an welchem Sie mich nicht auf dieser Bank sitzen
sehen. So dachte ich denn, es hat wohl Zeit bis morgen, und
weggeworfenes Geld ist es doch.«
»Hm, hm,« brummte Herr Philipp, fügte aber diesmal hinzu: »Doktor-
und Apothekerrechnungen zahlt wohl niemand gern; -- aber wir
machen es so billig als möglich, Gevatterin.«
»Wie es sich schickt für eine arme, elende Witfrau,« schluchzte die
muntere Bäuerin hinter ihren Schürzenzipfeln.
»Na, na,« sagte der Apotheker, »zum Teufel, noch lebt er ja! Witfrau?
junge Frau! ei freilich! -- und meiner Meinung nach wird er es noch
manches lange, gute Jahr durchmachen. Der Doktor und ich wollen
schon das Unsrige thun.«
Die untröstliche Gattin auf der Bank stieß einen Ton hervor, der alles
bedeuten konnte: Dankbarkeit, Hoffnung, Freude, Schreck, Mißmut,
Ärger und Hohn. Der Apotheker hatte seine Mixtur fertig, reichte sie
durch das Fenster, und die jammergeschlagene junge Witwe in spe ging
ab und zwar zu seinem innigsten Genügen gerade in ein erhöhtes
Aufwüten und Lostosen des Herbststurmes hinein.
»Die Canaille!« brummte der Alte, als er in seine Bildergalerie
zurückkam und sich unter dem Eindrucke der Unterhaltung wieder
recht fest niederließ, nachdem er mit merklicher Energie vorher
frisches Holz in den Ofen geworfen hatte. »Dies Frauenzimmer hätte
mir beinahe meine süßesten Erinnerungen für jetzt zu nichte gemacht,«
murmelte er. »Eben geriet ich in dieselben hinein, als das Weib die
Glocke zog; aber das ist freilich immer mein Los in der Welt gewesen,
und anderen wird es wohl nicht besser gehen. Und dann ist ja doch
auch nichts daraus geworden, Johanne! Zusammen sind wir nicht
gekommen. Jeder hat seinen eigenen Weg gehen müssen; ich unter so
sonderbaren Umständen in diesen verlorenen Weltwinkel, du, mein
armes Kind und Herz, in dein Grab. Nunc cinis ante rosa,
einundzwanzig Jahre alt -- ach, Johanne, liebe, liebe Johanne! --
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