Zuchthausgeschichten von einem ehemaligen Züchtling | Page 5

Joseph M. Hägele
bin der Leichtsinnigste und habe in diesem
Zustande geschrieben!"
Wenn er wollte, brachte er stets die besten Aufsätze, doch schien er
immer weniger zu wollen, der Lehrer sagte wenig dazu, verschonte ihn
fernerhin auch mit Schlägen und wußte warum.
War eine Schulaufgabe zu machen oder gar die Sonntagspredigt
nachzuschreiben, so gings wie eine Prozession zu Jacobens Haus, denn
hier saß der Benedict, trug die Predigt Wort für Wort im Kopfe und
dictirte Jedem der zu ihm kam und Jedem verschieden, je nachdem er
den Hansjörg mit seinem harten Hirnkasten, den Mathes, diesen
privilegirten und getreuen Eselsbankdrücker oder einen Gescheidtern
vor sich bekam. Die besten Aufsätze jedoch dictirte er den Mädlen, lief
stundenlang von Haus zu Haus und bevor die Sabin insbesondere das
Fließblatt ins Heft gelegt hatte, dachte er nicht ans Ballspielen oder an
etwas Anderes.
An einem Winterabend zogen alle Buben ihre Schlitten lange vor der
Betzeit heim und mit vielen Erwachsenen dem Rindhofe zu und
Niemand fragte, was es gebe, weil Jeder wußte, es werde alldort
Comödie gespielt. Die Mädchen saßen schon in der Scheune, Sabinens
Gesicht glänzte vor Freude; sie saß mit der Mutter Theres und Hanne
auf der vordersten Bank, der Jacob fehlte auch nicht und sah heute
nicht sorgenschwer und finster drein, sondern koste mit zweien seiner
jüngern Kinder; die Bänke füllten sich rasch und Alles schaute
gespannt und ungeduldig nach einem Vorhange, der aus vier
zusammengenähten Leintüchern gebildet war. Endlich kommt auch der
alte Lehrer, eine Schelle lärmt, der Vorhang geht auf und mit einem Ah!
der Bewunderung betrachten Alle--das Marionettentheater und wissen,
daß heute der Benedict den "verlornen Sohn" spielen wird.
Hat der Benedict dem Landstreicher Kranich nicht längst alle Possen

abgespickt? Macht er ihm nicht alle Zauberstücke nach und hat er nicht
die Herzen der Dorfbewohner schon durch den "Todessprung des
Ritters, den Doktor Faust, die Genofeva von Brabant, die drei
Müllerstöchter, die Hirlanda, schöne Magelona" und Anderes erfreut?
Sind nicht Einzelne aus den nahen Dörfern und einmal sogar der Herr
Pfarrer gekommen? Hat der Benedict nicht seine Herzkäfer, die Sabin,
Euphrosin, Susann, Margreth, Thekla, Line, Affer, Lisbeth und Andere
geplagt, bis alle Puppen da waren? Hat er nicht den Hanswurst selbst
gemacht und dazu ein Stück Hosenleder verschnitten, welches dem
Mütterchen auf Ostern Schuhe hätte geben sollen?
Heute bat er sichs sauer werden lassen, um den "verlornen Sohn"
prächtig auszustatten. Jetzt sieht man den Alten in seinem Ruhesessel,
der älteste Sohn steht trotzig vor ihm und fordert sein Erbtheil. Dann
geht er fort ins fremde Land, ein Reisender kommt zu der Mutter und
sagt derselben, aus ihrem Sohne sei etwas Großes geworden, er
kommandire eine ganze Armee. Richtig kommt der Sohn mit seiner
großen Armee, diese jauchzt, johlt und jodelt wie nach dem größten
Siege selten eine und so geht das Ding fort bis ans Ende, wo der
Benedict ein bischen heiser wird.
Wer aber beschreibt das Entzücken des Publikums? Wann hat der
vielgeübte Kranich jemals den weichherzigsten Mädlen Thränen
entlockt? Der Benedict tritt hervor, ist umringt von nassen Augen, der
Lehrer wird zum Wortführer des Lobes der Zuschauer, der Benedict
verlebt eine der seligsten Stunden seines Daseins, die Mutter desselben
schwimmt mit der Sabin' und andern Mädchen in Freudenthränen, von
ihrem Augapfel, ihrem Liebling entlockt.
Jetzt drängt sich das mehr als 80jährige Bäbele mit seinen
schneeweißen Haaren aus dem Hintergrunde hervor; war doch der
Benedict auch ihr Liebling und sie muß ihm auch ihre Huldigung
darbringen. Sie thut es, doch thut sie noch mehr, denn das Morgenroth
einer höhern Welt leuchtet durch ihre Wangen, die Augen schauen
prophetisch in die Zukunft und zu dem Volke sich wendend, spricht sie
das inhaltsschwere Wort. "_Glaubt nur, ihr Leut', aus dem Benedict
wird entweder ein großer Herr oder ein großer Spitzbube,_ in unserm

Geleise bleibt er nicht!" Wie oft hat der "Duckmäuser" in bangen
Kerkernächten, in der erschütternden Einsamkeit der Zelle an diese
Worte gedacht! Bäbeles Gebeine sind längst vermodert, ihr Name ist
verschollen, doch ihr prophetisches Wort hat sich erfüllt und zittert
durch das Herz eines Lebendigbegrabenen!
Längst haben sich die einzelnen Kameradschaften der Buben und
Mädchen alle bemüht, den Benedict an sich zu fesseln, längst war er
der Mittelpunkt, um den sich die Dorfjugend sammelte; in die
"Kunkelstube", wo er gerade zu finden war, dahin kamen auch Männer
und Frauen, denn er erzählte Legenden der Heiligen, Rittergeschichten
und Anderes so schön und lebendig, daß man Alles zu sehen und zu
hören glaubte und in seinem Dörflein war noch alte Sitte und Zucht
vorherrschend und man hätte einen Menschen, der über die Heiligen
spottete oder die Unschuld erröthen machte, aus den meisten
Kunkelstuben einfach hinausgeworfen.
Seit dem Abend, an welchem der verlorne Sohn gespielt worden,
schaute der Jacob seinen Benedict respectvoller an, derselbe war ihm
und Andern längst über den Kopf hinausgewachsen, der Held der
Dorfjugend und sein Name in allen umliegenden Dörfern mit
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