Wilhelm Meisters Wanderjahre, vol 3 | Page 6

Johann Wolfgang von Goethe
Friedrich, Nataliens Bruder, zu erkennen gab. Das Entzücken der Freunde verbreitete sich über alle Gegenw?rtigen; ein Freud--und Segensruf erscholl die ganze Tafel her. Auf einmal aber, als man sich gesetzt, ward alles still und das Gastmahl mit einer gewissen Feierlichkeit aufgetragen und eingenommen.
Gegen Ende der Tafel gab Lenardo ein Zeichen, zwei S?nger standen auf, und Wilhelm verwunderte sich sehr, sein gestriges Lied wiederholt zu h?ren, das wir, der n?chsten Folge wegen, hier wieder einzurücken für n?tig finden.

"Von dem Berge zu den Hügeln, Niederab das Tal entlang, Da erklingt es wie von Flügeln, Da bewegt sich's wie Gesang; Und dem unbedingten Triebe Folget Freude, folget Rat; Und dein Streben, sei's in Liebe, Und dein Leben sei die Tat."

Kaum hatte dieser Zwiegesang, von einem gef?llig m??igen Chor begleitet, sich zum Ende geneigt, als gegenüber sich zwei andere S?nger ungestüm erhuben, welche mit ernster Heftigkeit das Lied mehr umkehrten als fortsetzten, zur Verwunderung des Ank?mmlings aber sich also vernehmen lie?en:

"Denn die Bande sind zerrissen, Das Vertrauen ist verletzt; Kann ich sagen, kann ich wissen, Welchem Zufall ausgesetzt Ich nun scheiden, ich nun wandern, Wie die Witwe trauervoll, Statt dem einen mit dem andern Fort und fort mich wenden soll!"

Der Chor, in diese Strophe einfallend, ward immer zahlreicher, immer m?chtiger, und doch konnte man die Stimme des heiligen Christoph, vom untern Ende der Tafel her, gar bald unterscheiden. Beinahe furchtbar schwoll zuletzt die Trauer; ein unmutiger Mut brachte, bei Gewandtheit der S?nger, etwas Fugenhaftes in das Ganze, da? es unserm Freunde wie schauderhaft auffiel. Wirklich schienen alle v?llig gleichen Sinnes zu sein und ihr eignes Schicksal eben kurz vor dem Aufbruche zu betrauern. Die wundersamsten Wiederholungen, das ?ftere Wiederaufleben eines beinahe ermattenden Gesanges schien zuletzt dem Bande selbst gef?hrlich; Lenardo stand auf, und alle setzten sich sogleich nieder, den Hymnus unterbrechend. Jener begann mit freundlichen Worten: "Zwar kann ich euch nicht tadeln, da? ihr euch das Schicksal, das uns allen bevorsteht, immer vergegenw?rtigt, um zu demselben jede Stunde bereit zu sein. Haben doch lebensmüde, bejahrte M?nner den Ihrigen zugerufen: "Gedenke zu sterben!", so dürfen wir lebenslustige jüngere wohl uns immerfort ermuntern und ermahnen mit den heitern Worten: "Gedenke zu wandern!"; dabei ist aber wohlgetan, mit Ma? und Heiterkeit dessen zu erw?hnen, was man entweder willig unternimmt, oder wozu man sich gen?tigt glaubt. Ihr wi?t am besten, was unter uns fest steht und was beweglich ist; gebt uns dies auch in erfreulichen, aufmunternden T?nen zu genie?en, worauf denn dieses Abschiedsglas für diesmal gebracht sei!" Er leerte sodann seinen Becher und setzte sich nieder; die vier S?nger standen sogleich auf und begannen in abgeleiteten, sich anschlie?enden T?nen:

"Bleibe nicht am Boden heften, Frisch gewagt und frisch hinaus! Kopf und Arm mit heitern Kr?ften, überall sind sie zu Haus; Wo wir uns der Sonne freuen, Sind wir jede Sorge los: Da? wir uns in ihr zerstreuen, Darum ist die Welt so gro?."

Bei dem wiederholenden Chorgesange stand Lenardo auf und mit ihm alle; sein Wink setzte die ganze Tischgesellschaft in singende Bewegung; die unteren zogen, St. Christoph voran, paarweis zum Saale hinaus, und der angestimmte Wandergesang ward immer heiterer und freier; besonders aber nahm er sich sehr gut aus, als die Gesellschaft, in den terrassierten Schlo?g?rten versammelt, von hier aus das ger?umige Tal übersah, in dessen Fülle und Anmut man sich wohl gern verloren h?tte. Indessen die Menge sich nach Belieben hier--und dorthin zerstreute, machte man Wilhelmen mit dem dritten Vorsitzenden bekannt. Es war der Amtmann, der das gr?fliche, zwischen mehreren Standesherrschaften liegende Schlo? dieser Gesellschaft, so lange sie hier zu verweilen für gut f?nde, einzur?umen und ihr vielfache Vorteile zu verschaffen gewu?t, dagegen aber auch, als ein kluger Mann, die Anwesenheit so seltener G?ste zu nutzen verstand. Denn indem er für billige Preise seine Fruchtb?den auftat und, was sonst noch zu Nahrung und Notdurft erforderlich w?re, zu verschaffen wu?te, so wurden bei solcher Gelegenheit l?ngst vernachl?ssigte Dachreihen umgelegt, Dachstühle hergestellt, Mauern unterfahren, Planken gerichtet und andere M?ngel auf den Grad gehoben, da? ein l?ngst vernachl?ssigtes, in Verfall geratenes Besitztum verblühender Familien den frohen Anblick einer lebendig benutzten Wohnlichkeit gew?hrte und das Zeugnis gab: Leben schaffe Leben, und, wer andern nützlich sei, auch sie ihm zu nutzen in die Notwendigkeit versetze.

Zweites Kapitel
Hersilie an Wilhelm
Mein Zustand kommt mir vor wie ein Trauerspiel des Alfieri; da die Vertrauten v?llig ermangeln, so mu? zuletzt alles in Monologen verhandelt werden, und fürwahr, eine Korrespondenz mit Ihnen ist einem Monolog vollkommen gleich; denn Ihre Antworten nehmen eigentlich wie ein Echo unsre Silben nur oberfl?chlich auf, um sie verhallen zu lassen. Haben Sie auch nur ein einzigmal etwas erwidert, worauf man wieder h?tte erwidern k?nnen? Parierend, ablehnend sind Ihre Briefe! Indem ich aufstehe, Ihnen entgegenzutreten, so weisen Sie mich wieder auf den Sessel zurück.

Vorstehendes war schon einige Tage geschrieben; nun findet sich ein neuer Drang und Gelegenheit, Gegenw?rtiges an Lenardo zu bringen; dort findet Sie's,
Continue reading on your phone by scaning this QR Code

 / 69
Tip: The current page has been bookmarked automatically. If you wish to continue reading later, just open the Dertz Homepage, and click on the 'continue reading' link at the bottom of the page.