Wilhelm Meisters Wanderjahre, vol 3 | Page 5

Johann Wolfgang von Goethe
heiterer Gesang hielt noch einige Zeit die Gesellschaft für das Ohr zusammen, die dem Blick bereits auseinandergegangen war; worauf denn Wilhelm in ein Zimmer geführt wurde von der anmutigsten Lage. Der Vollmond, eine reiche Flur beleuchtend, war schon herauf und weckte ?hnliche und gleiche Erinnerungen in dem Busen unseres Wanderers. Die Geister aller lieben Freunde zogen bei ihm vorüber, besonders aber war ihm Lenardos Bild so lebendig, da? er ihn unmittelbar vor sich zu sehen glaubte. Dies alles gab ihm ein inniges Behagen zur n?chtlichen Ruhe, als er durch den wunderlichsten Laut beinahe erschreckt worden w?re. Es klang aus der Ferne her, und doch schien es im Hause selbst zu sein, denn das Haus zitterte manchmal, und die Balken dr?hnten, wenn der Ton zu seiner gr??ten Kraft stieg. Wilhelm, der sonst ein zartes Ohr hatte, alle T?ne zu unterscheiden, konnte doch sich für nichts bestimmen; er verglich es dem Schnarren einer gro?en Orgelpfeife, die vor lauter Umfang keinen entschiedenen Ton von sich gibt. Ob dieses Nachtschrecken gegen Morgen nachlie?, oder ob Wilhelm, nach und nach daran gew?hnt, nicht mehr dafür empfindlich war, ist schwer auszumitteln; genug, er schlief ein und ward von der aufgehenden Sonne anmutig erweckt.
Kaum hatte ihm einer der dienenden Knaben das Frühstück gebracht, als eine Figur hereintrat, die er am Abendtische bemerkt hatte, ohne über deren Eigenschaften klar zu werden. Es war ein wohlgebauter, breitschultriger, auch behender Mann, der sich durch ausgekramtes Ger?t als Barbier ankündigte und sich bereitete, Wilhelmen diesen so erwünschten Dienst zu leisten. übrigens schwieg er still, und das Gesch?ft war mit sehr leichter Hand vollbracht, ohne da? er irgendeinen Laut von sich gegeben h?tte. Wilhelm begann daher und sprach: "Eure Kunst versteht Ihr meisterlich, und ich wü?te nicht, da? ich ein zarteres Messer jemals an meinen Wangen gefühlt h?tte, zugleich scheint Ihr aber die Gesetze der Gesellschaft genau zu beobachten."
Schalkhaft l?chelnd, den Finger auf den Mund legend, schlich der Schweigsame zur Türe hinaus. "Wahrlich!" rief ihm Wilhelm nach: "Ihr seid jener Rotmantel, wo nicht selbst, doch wenigstens gewi? ein Abk?mmling; es ist Euer Glück, da? Ihr den Gegendienst von mir nicht verlangen wollt, Ihr würdet Euch dabei schlecht befunden haben."
Kaum hatte dieser wunderliche Mann sich entfernt, als der bekannte Vogt hereintrat, zur Tafel für diesen Mittag eine Einladung ausrichtend, welche gleichfalls ziemlich seltsam klang: das Band, so sagte der Einladende ausdrücklich, hei?e den Fremden willkommen, berufe denselben zum Mittagsmahle und freue sich der Hoffnung, mit ihm in ein n?heres Verh?ltnis zu treten. Man erkundigte sich ferner nach dem Befinden des Gastes, und wie er mit der Bewirtung zufrieden sei; der denn von allem, was ihm begegnet war, nur mit Lob sprechen konnte. Freilich h?tte er sich gern bei diesem Manne, wie vorher bei dem schweigsamen Barbier, nach dem entsetzlichen Ton erkundigt, der ihn diese Nacht, wo nicht ge?ngstigt, doch beunruhigt hatte; seines Angel?bnisses jedoch eingedenk, enthielt er sich jeder Frage und hoffte, ohne zudringlich zu sein, aus Neigung der Gesellschaft oder zuf?llig nach seinen Wünschen belehrt zu werden.
Als der Freund sich allein befand, dachte er über die wunderliche Person erst nach, die ihn hatte einladen lassen, und wu?te nicht recht, was er daraus machen sollte. Einen oder mehrere Vorgesetzte durch ein Neutrum anzukündigen, kam ihm allzu bedenklich vor. übrigens war es so still um ihn her, da? er nie einen stilleren Sonntag erlebt zu haben glaubte; er verlie? das Haus, vernahm aber ein Glockengel?ute und ging nach dem St?dtchen zu. Die Messe war eben geendigt, und unter den sich herausdr?ngenden Einwohnern und Landleuten erblickte er drei Bekannte von gestern, einen Zimmergesellen, einen Maurer und einen Knaben. Sp?ter bemerkte er unter den protestantischen Gottesverehrern gerade die drei andern. Wie die übrigen ihrer Andacht pflegen mochten, ward nicht bekannt, so viel aber getraute er sich zu schlie?en, da? in dieser Gesellschaft eine entschiedene Religionsfreiheit obwalte.
Zu Mittag kam demselben am Schlo?tore der Vogt entgegen, ihn durch mancherlei Hallen in einen gro?en Vorsaal zu führen, wo er ihn niedersetzen hie?. Viele Personen gingen vorbei, in einen ansto?enden Saalraum hinein. Die schon bekannten waren darunter zu sehen, selbst St. Christoph schritt vorüber; alle grü?ten den Vogt und den Ank?mmling. Was dem Freund dabei am meisten auffiel, war, da? er nur Handwerker zu sehen glaubte, alle nach gewohnter Weise, aber h?chst reinlich gekleidet; wenige, die er allenfalls für Kanzleiverwandte gehalten h?tte.
Als nun keine neuen G?ste weiter zudrangen, führte der Vogt unsern Freund durch die stattliche Pforte in einen weitl?ufigen Saal; dort war eine unübersehbare Tafel gedeckt, an deren unterem Ende er vorbeigeführt wurde, nach oben zu, wo er drei Personen quer vorstehen sah. Aber von welchem Erstaunen ward er ergriffen, als er in die N?he trat und Lenardo, kaum noch erkannt, ihm um den Hals fiel. Von dieser überraschung hatte man sich noch nicht erholt, als ein Zweiter Wilhelmen gleichfalls feurig und lebhaft umarmte und sich als den wunderlichen
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