die Ehrfurcht
vor sich selbst, und jene entwickeln sich abermals aus dieser, so daß
der Mensch zum Höchsten gelangt, was er zu erreichen fähig ist, daß er
sich selbst für das Beste halten darf, was Gott und Natur
hervorgebracht haben, ja, daß er auf dieser Höhe verweilen kann, ohne
durch Dünkel und Selbstheit wieder ins Gemeine gezogen zu werden."
"Ein solches Bekenntnis, auf diese Weise entwickelt, befremdet mich
nicht", versetzte Wilhelm, "es kommt mit allem überein, was man im
Leben hie und da vernimmt, nur daß euch dasjenige vereinigt, was
andere trennt." Hierauf versetzten jene: "Schon wird dieses Bekenntnis
von einem großen Teil der Welt ausgesprochen, doch unbewußt."
"Wie denn und wo?" fragte Wilhelm. "Im Credo!" riefen jene laut;
"denn der erste Artikel ist ethnisch und gehört allen Völkern; der
zweite christlich, für die mit Leiden Kämpfenden und in Leiden
Verherrlichten; der dritte zuletzt lehrt eine begeisterte Gemeinschaft
der Heiligen, welches heißt: der im höchsten Grad Guten und Weisen.
Sollten daher die drei göttlichen Personen, unter deren Gleichnis und
Namen solche überzeugungen und Verheißungen ausgesprochen sind,
nicht billigermaßen für die höchste Einheit gelten?"
"Ich danke", versicherte jener, "daß ihr mir dieses, als einem
Erwachsenen, dem die drei Sinnesarten nicht fremd sind, so klar und
zusammenhängend aussprechen wollen, und wenn ich nun zurückdenke,
daß ihr den Kindern diese hohe Lehre erst als sinnliches Zeichen, dann
mit einigem symbolischen Anklang überliefert und zuletzt die oberste
Deutung ihnen entwickelt, so muß ich es höchlich billigen."
"Ganz richtig", erwiderten jene; "nun aber müßt Ihr noch mehr erfahren,
damit Ihr Euch überzeugt, daß Euer Sohn in den besten Händen sei.
Doch dies Geschäft bleibe für die Morgenstunden; ruht aus und
erquickt Euch, damit Ihr uns, vergnügt und vollkommen menschlich,
morgen früh in das Innere folgen könnt."
Zweites Kapitel
An der Hand des ältesten trat nun unser Freund durch ein ansehnliches
Portal in eine runde oder vielmehr achteckige Halle, die mit Gemälden
so reichlich ausgeziert war, daß sie den Ankömmling in Erstaunen
setzte. Er begriff leicht, daß alles, was er erblickte, einen bedeutenden
Sinn haben müßte, ob er sich gleich denselben nicht so geschwind
entziffern konnte. Er war eben im Begriff, seinen Begleiter deshalb zu
befragen, als dieser ihn einlud, seitwärts in eine Galerie zu treten, die,
an der einen Seite offen, einen geräumigen, blumenreichen Garten
umgab. Die Wand zog jedoch mehr als dieser heitre, natürliche
Schmuck die Augen an sich: denn sie war durchaus gemalt, und der
Ankömmling konnte nicht lange daran hergehen, ohne zu bemerken,
daß die heiligen Bücher der Israeliten den Stoff zu diesen Bildern
geliefert hatten.
"Es ist hier", sagte der älteste, "wo wir diejenige Religion überliefern,
die ich Euch der Kürze wegen die ethnische genannt habe. Der Gehalt
derselben findet sich in der Weltgeschichte, so wie die Hülle derselben
in den Begebenheiten. An der Wiederkehr der Schicksale ganzer
Völker wird sie eigentlich begriffen."
"Ihr habt", sagte Wilhelm, "wie ich sehe, dem israelitischen Volke die
Ehre erzeigt und seine Geschichte zum Grunde dieser Darstellung
gelegt, oder vielmehr ihr habt sie zum Hauptgegenstande derselben
gemacht."--"Wie Ihr seht", versetzte der Alte; "denn Ihr werdet
bemerken, daß in den Sockeln und Friesen nicht sowohl
synchronistische als symphronistische Handlungen und Begebenheiten
aufgeführt sind, indem unter allen Völkern gleichbedeutende und
Gleiches deutende Nachrichten vorkommen. So erblickt Ihr hier, wenn
in dem Hauptfelde Abraham von seinen Göttern in der Gestalt schöner
Jünglinge besucht wird, den Apoll unter den Hirten Admets oben in der
Friese; woraus wir lernen können, daß, wenn die Götter den Menschen
erscheinen, sie gewöhnlich unerkannt unter ihnen wandeln."
Die Betrachtenden schritten weiter. Wilhelm fand meistens bekannte
Gegenstände, jedoch lebhafter und bedeutender vorgetragen, als er sie
sonst zu sehen gewohnt war. über weniges bat er sich einige Erklärung
aus; wobei er sich nicht enthalten konnte, nochmals zu fragen, warum
man die israelitische Geschichte vor allen andern gewählt. Hierauf
antwortete der älteste: "Unter allen heidnischen Religionen, denn eine
solche ist die israelitische gleichfalls, hat diese große Vorzüge, wovon
ich nur einiger erwähnen will. Vor dem ethnischen Richterstuhle, vor
dem Richterstuhl des Gottes der Völker, wird nicht gefragt, ob es die
beste, die vortrefflichste Nation sei, sondern nur, ob sie daure, ob sie
sich erhalten habe. Das israelitische Volk hat niemals viel getaugt, wie
es ihm seine Anführer, Richter, Vorsteher, Propheten tausendmal
vorgeworfen haben; es besitzt wenig Tugenden und die meisten Fehler
anderer Völker: aber an Selbständigkeit, Festigkeit, Tapferkeit und,
wenn alles das nicht mehr gilt, an Zäheit sucht es seinesgleichen. Es ist
das beharrlichste Volk der Erde, es ist, es war, es wird sein, um den
Namen Jehova durch alle Zeiten zu verherrlichen. Wir haben es daher
als Musterbild aufgestellt, als Hauptbild, dem die andern nur zum
Rahmen dienen."
"Es ziemt sich nicht, mit Euch zu rechten", versetzte Wilhelm, "da Ihr
mich zu belehren imstande seid. Eröffnet mir daher noch die übrigen
Vorteile dieses Volks, oder vielmehr seiner

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