Wilhelm Meisters Wanderjahre, vol 2 | Page 6

Johann Wolfgang von Goethe
lächelnde Blick sagen, daß man die Erde wohl und heiter zu
betrachten habe; sie gibt Gelegenheit zur Nahrung; sie gewährt
unsägliche Freuden; aber unverhältnismäßige Leiden bringt sie. Wenn
einer sich körperlich beschädigte, verschuldend oder unschuldig, wenn
ihn andere vorsätzlich oder zufällig verletzten, wenn das irdische
Willenlose ihm ein Leid zufügte, das bedenk' er wohl: denn solche
Gefahr begleitet ihn sein Leben lang. Aber aus dieser Stellung befreien
wir unsern Zögling baldmöglichst, sogleich wenn wir überzeugt sind,
daß die Lehre dieses Grads genugsam auf ihn gewirkt habe; dann aber
heißen wir ihn sich ermannen, gegen Kameraden gewendet nach ihnen
sich richten. Nun steht er strack und kühn, nicht etwa selbstisch
vereinzelt; nur in Verbindung mit seinesgleichen macht er Fronte gegen
die Welt. Weiter müßten wir nichts hinzuzufügen."
"Es leuchtet mir ein!" versetzte Wilhelm; "deswegen liegt die Menge
wohl so im argen, weil sie sich nur im Element des Mißwollens und
Mißredens behagt; wer sich diesem überliefert, verhält sich gar bald
gegen Gott gleichgültig, verachtend gegen die Welt, gegen
seinesgleichen gehässig; das wahre, echte, unentbehrliche Selbstgefühl
aber zerstört sich in Dünkel und Anmaßung. Erlauben Sie mir
dessenungeachtet", fuhr Wilhelm fort, "ein einziges einzuwenden: Hat
man nicht von jeher die Furcht roher Völker vor mächtigen
Naturerscheinungen und sonst unerklärlichen, ahnungsvollen
Ereignissen für den Keim gehalten, woraus ein höheres Gefühl, eine
reinere Gesinnung sich stufenweise entwickeln sollte?" Hierauf
erwiderten jene: "Der Natur ist Furcht wohl gemäß, Ehrfurcht aber
nicht; man fürchtet ein bekanntes oder unbekanntes mächtiges Wesen,
der Starke sucht es zu bekämpfen, der Schwache zu vermeiden, beide
wünschen es loszuwerden und fühlen sich glücklich, wenn sie es auf
kurze Zeit beseitigt haben, wenn ihre Natur sich zur Freiheit und

Unabhängigkeit einigermaßen wieder herstellte. Der natürliche Mensch
wiederholt diese Operation millionenmal in seinem Leben, von der
Furcht strebt er zur Freiheit, aus der Freiheit wird er in die Furcht
getrieben und kommt um nichts weiter. Sich zu fürchten ist leicht, aber
beschwerlich; Ehrfurcht zu hegen ist schwer, aber bequem. Ungern
entschließt sich der Mensch zur Ehrfurcht, oder vielmehr entschließt
sich nie dazu; es ist ein höherer Sinn, der seiner Natur gegeben werden
muß und der sich nur bei besonders Begünstigten aus sich selbst
entwickelt, die man auch deswegen von jeher für Heilige, für Götter
gehalten. Hier liegt die Würde, hier das Geschäft aller echten
Religionen, deren es auch nur dreie gibt, nach den Objekten, gegen
welche sie ihre Andacht wenden."
Die Männer hielten inne, Wilhelm schwieg eine Weile nachdenkend;
da er in sich aber die Anmaßung nicht fühlte, den Sinn jener
sonderbaren Worte zu deuten, so bat er die Würdigen, in ihrem
Vortrage fortzufahren, worin sie ihm denn auch sogleich willfahrten.
"Keine Religion", sagten sie, "die sich auf Furcht gründet, wird unter
uns geachtet. Bei der Ehrfurcht, die der Mensch in sich walten läßt,
kann er, indem er Ehre gibt, seine Ehre behalten, er ist nicht mit sich
selbst veruneint wie in jenem Falle. Die Religion, welche auf Ehrfurcht
vor dem, was über uns ist, beruht, nennen wir die ethnische, es ist die
Religion der Völker und die erste glückliche Ablösung von einer
niedern Furcht; alle sogenannten heidnischen Religionen sind von
dieser Art, sie mögen übrigens Namen haben, wie sie wollen. Die
zweite Religion, die sich auf jene Ehrfurcht gründet, die wir vor dem
haben, was uns gleich ist, nennen wir die philosophische: denn der
Philosoph, der sich in die Mitte stellt, muß alles Höhere zu sich herab,
alles Niedere zu sich herauf ziehen, und nur in diesem Mittelzustand
verdient er den Namen des Weisen. Indem er nun das Verhältnis zu
seinesgleichen und also zur ganzen Menschheit, das Verhältnis zu allen
übrigen irdischen Umgebungen, notwendigen und zufälligen,
durchschaut, lebt er im kosmischen Sinne allein in der Wahrheit. Nun
ist aber von der dritten Religion zu sprechen, gegründet auf die
Ehrfurcht vor dem, was unter uns ist; wir nennen sie die christliche,
weil sich in ihr eine solche Sinnesart am meisten offenbart; es ist ein
Letztes, wozu die Menschheit gelangen konnte und mußte. Aber was
gehörte dazu, die Erde nicht allein unter sich liegen zu lassen und sich

auf einen höhern Geburtsort zu berufen, sondern auch Niedrigkeit und
Armut, Spott und Verachtung, Schmach und Elend, Leiden und Tod als
göttlich anzuerkennen, ja Sünde selbst und Verbrechen nicht als
Hindernisse, sondern als Fördernisse des Heiligen zu verehren und
liebzugewinnen. Hievon finden sich freilich Spuren durch alle Zeiten,
aber Spur ist nicht Ziel, und da dieses einmal erreicht ist, so kann die
Mehrheit nicht wieder zurück, und man darf sagen, daß die christliche
Religion, da sie einmal erschienen ist, nicht wieder verschwinden kann,
da sie sich einmal göttlich verkörpert hat, nicht wieder aufgelöst
werden mag."
"Zu welcher von diesen Religionen bekennt ihr euch denn
insbesondere?" sagte Wilhelm. "Zu allen dreien", erwiderten jene;
"denn sie zusammen bringen eigentlich die wahre Religion hervor; aus
diesen drei Ehrfurchten entspringt die oberste Ehrfurcht,
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