Wilhelm Meisters Wanderjahre, vol 2 | Page 5

Johann Wolfgang von Goethe
war ein Spiel, woran sich die Knaben in der Feierstunde diesmal erg?tzten. Ein allgemeiner Chorgesang erscholl, wozu jedes Glied eines weiten Kreises freudig, klar und t��chtig an seinem Teile zustimmte, den Winken des Regelnden gehorchend. Dieser ��berraschte jedoch ?fters die Singenden, indem er durch ein Zeichen den Chorgesang aufhob und irgendeinen einzelnen Teilnehmenden, ihn mit dem St?bchen ber��hrend, aufforderte, sogleich allein ein schickliches Lied dem verhallenden Ton, dem vorschwebenden Sinne anzupassen. Schon zeigten die meisten viel Gewandtheit, einige, denen das Kunstst��ck mi?lang, gaben ihr Pfand willig hin, ohne gerade ausgelacht zu werden. Felix war Kind genug, sich gleich unter sie zu mischen, und zog sich noch so leidlich aus der Sache. Sodann ward ihm jener erste Gru? zugeeignet; er legte sogleich die H?nde auf die Brust, blickte aufw?rts, und zwar mit so schnackischer Miene, da? man wohl bemerken konnte, ein geheimer Sinn dabei sei ihm noch nicht aufgegangen.
Der angenehme Ort, die gute Aufnahme, die muntern Gespielen, alles gefiel dem Knaben so wohl, da? es ihm nicht sonderlich wehe tat, seinen Vater abreisen zu sehen; fast blickte er dem weggef��hrten Pferde schmerzlicher nach; doch lie? er sich bedeuten, da er vernahm, da? er es im gegenw?rtigen Bezirk nicht behalten k?nne; man versprach ihm dagegen, er solle, wo nicht dasselbe, doch ein gleiches, munter und wohlgezogen, unerwartet wiederfinden.
Da sich der Obere nicht erreichen lie?, sagte der Aufseher: "Ich mu? Euch nun verlassen, meine Gesch?fte zu verfolgen; doch will ich Euch zu den Dreien bringen, die unsern Heiligt��mern vorstehen, Euer Brief ist auch an sie gerichtet, und sie zusammen stellen den Obern vor." Wilhelm h?tte gew��nscht, von den Heiligt��mern im voraus zu vernehmen, jener aber versetzte: "Die Dreie werden Euch, zu Erwiderung des Vertrauens, da? Ihr uns Euren Sohn ��berla?t, nach Weisheit und Billigkeit gewi? das N?tigste er?ffnen. Die sichtbaren Gegenst?nde der Verehrung, die ich Heiligt��mer nannte, sind in einen besondern Bezirk eingeschlossen, werden mit nichts gemischt, durch nichts gest?rt; nur zu gewissen Zeiten des Jahres l??t man die Z?glinge, den Stufen ihrer Bildung gem??, dort eintreten, um sie historisch und sinnlich zu belehren, da sie denn genugsamen Eindruck mit wegnehmen, um, bei Aus��bung ihrer Pflicht, eine Zeitlang daran zu zehren."
Nun stand Wilhelm am Tor eines mit hohen Mauern umgebenen Talwaldes; auf ein gewisses Zeichen er?ffnete sich die kleine Pforte, und ein ernster, ansehnlicher Mann empfing unsern Freund. Dieser fand sich in einem gro?en, herrlichen gr��nenden Raum, von B?umen und B��schen vielerlei Art beschattet, kaum da? er stattliche Mauern und ansehnliche Geb?ude durch diese dichte und hohe Naturpflanzung hindurch bemerken konnte; ein freundlicher Empfang von den Dreien, die sich nach und nach herbeifanden, l?ste sich endlich in ein Gespr?ch auf, wozu jeder das Seinige beitrug, dessen Inhalt wir jedoch in der K��rze zusammenfassen.
"Da Ihr uns Euren Sohn vertraut", sagten sie, "sind wir schuldig, Euch tiefer in unser Verfahren hineinblicken zu lassen. Ihr habt manches ?u?erliche gesehen, welches nicht sogleich sein Verst?ndnis mit sich f��hrt; was davon w��nscht Ihr vor allem aufgeschlossen?"
"Anst?ndige, doch seltsame Geb?rden und Gr��?e hab' ich bemerkt, deren Bedeutung ich zu erfahren w��nschte; bei euch bezieht sich gewi? das ?u?ere auf das Innere, und umgekehrt; la?t mich diesen Bezug erfahren."
"Wohlgeborne, gesunde Kinder", versetzten jene, "bringen viel mit; die Natur hat jedem alles gegeben, was er f��r Zeit und Dauer n?tig h?tte; dieses zu entwickeln, ist unsere Pflicht, ?fters entwickelt sich's besser von selbst. Aber eins bringt niemand mit auf die Welt, und doch ist es das, worauf alles ankommt, damit der Mensch nach allen Seiten zu ein Mensch sei. K?nnt Ihr es selbst finden, so sprecht es aus." Wilhelm bedachte sich eine kurze Zeit und sch��ttelte sodann den Kopf.
Jene, nach einem anst?ndigen Zaudern, riefen: "Ehrfurcht!" Wilhelm stutzte. "Ehrfurcht!" hie? es wiederholt. "Allen fehlt sie, vielleicht Euch selbst.
Dreierlei Geb?rde habt Ihr gesehen, und wir ��berliefern eine dreifache Ehrfurcht, die, wenn sie zusammenflie?t und ein Ganzes bildet, erst ihre h?chste Kraft und Wirkung erreicht. Das erste ist Ehrfurcht vor dem, was ��ber uns ist. Jene Geb?rde, die Arme kreuzweis ��ber die Brust, einen freudigen Blick gen Himmel, das ist, was wir unm��ndigen Kindern auflegen und zugleich das Zeugnis von ihnen verlangen, da? ein Gott da droben sei, der sich in Eltern, Lehrern, Vorgesetzten abbildet und offenbart. Das zweite: Ehrfurcht vor dem, was unter uns ist. Die auf den R��cken gefalteten, gleichsam gebundenen H?nde, der gesenkte, l?chelnde Blick sagen, da? man die Erde wohl und heiter zu betrachten habe; sie gibt Gelegenheit zur Nahrung; sie gew?hrt uns?gliche Freuden; aber unverh?ltnism??ige Leiden bringt sie. Wenn einer sich k?rperlich besch?digte, verschuldend oder unschuldig, wenn ihn andere vors?tzlich oder zuf?llig verletzten, wenn das irdische Willenlose ihm ein Leid zuf��gte, das bedenk' er wohl: denn solche Gefahr begleitet ihn sein Leben lang. Aber aus dieser Stellung befreien wir unsern Z?gling baldm?glichst, sogleich wenn wir ��berzeugt sind, da? die Lehre dieses Grads genugsam auf ihn gewirkt habe; dann aber
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