Wilhelm Meisters Wanderjahre, vol 1 | Page 9

Johann Wolfgang von Goethe
Mutter, selbst in der Kunst erfahren, die so manchen gleich beim Eintritt in das Leben zum Leben rettet, stand mit Frau Elisabeth in fortdauernd gutem Vernehmen, und ich mu?te oft von allen Seiten h?ren, da? mancher unserer r��stigen Bergbewohner diesen beiden Frauen sein Dasein zu danken habe. Das Geheimnis, womit mich Elisabeth jederzeit empfing, die b��ndigen Antworten auf meine r?tselhaften Fragen, die ich selbst nicht verstand, erregten mir sonderbare Ehrfurcht f��r sie, und ihr Haus, das h?chst reinlich war, schien mir eine Art von kleinem Heiligtume vorzustellen.
Indessen hatte ich durch meine Kenntnisse und Handwerkst?tigkeit in der Familie ziemlichen Einflu? gewonnen. Wie mein Vater als B?tticher f��r den Keller gesorgt hatte, so sorgte ich nun f��r Dach und Fach und verbesserte manchen schadhaften Teil der alten Geb?ude. Besonders wu?te ich einige verfallene Scheuern und Remisen f��r den h?uslichen Gebrauch wieder nutzbar zu machen; und kaum war dieses geschehen, als ich meine geliebte Kapelle zu r?umen und zu reinigen anfing. In wenigen Tagen war sie in Ordnung, fast wie Ihr sie sehet; wobei ich mich bem��hte, die fehlenden oder besch?digten Teile des T?felwerks dem Ganzen gleich wiederherzustellen. Auch solltet Ihr diese Fl��gelt��ren des Eingangs wohl f��r alt genug halten; sie sind aber von meiner Arbeit. Ich habe mehrere Jahre zugebracht, sie in ruhigen Stunden zu schnitzen, nachdem ich sie vorher aus starken eichenen Bohlen im ganzen t��chtig zusammengef��gt hatte. Was bis zu dieser Zeit von Gem?lden nicht besch?digt oder verloschen war, hat sich auch noch erhalten, und ich half dem Glasmeister bei einem neuen Bau, mit der Bedingung, da? er bunte Fenster herstellte.
Hatten jene Bilder und die Gedanken an das Leben des Heiligen meine Einbildungskraft besch?ftigt, so dr��ckte sich das alles nur viel lebhafter bei mir ein, als ich den Raum wieder f��r ein Heiligtum ansehen, darin, besonders zur Sommerszeit, verweilen und ��ber das, was ich sah oder vermutete, mit Mu?e nachdenken konnte. Es lag eine unwiderstehliche Neigung in mir, diesem Heiligen nachzufolgen; und da sich ?hnliche Begebenheiten nicht leicht herbeirufen lie?en, so wollte ich wenigstens von unten auf anfangen, ihm zu gleichen: wie ich denn wirklich durch den Gebrauch des lastbaren Tiers schon lange begonnen hatte. Das kleine Gesch?pf, dessen ich mich bisher bedient, wollte mir nicht mehr gen��gen; ich suchte mir einen viel stattlicheren Tr?ger aus, sorgte f��r einen wohlgebauten Sattel, der zum Reiten wie zum Packen gleich bequem war. Ein paar neue K?rbe wurden angeschafft, und ein Netz von bunten Schn��ren, Flocken und Quasten, mit klingenden Metallstiften untermischt, zierte den Hals des langohrigen Gesch?pfs, das sich nun bald neben seinem Musterbilde an der Wand zeigen durfte. Niemanden fiel ein, ��ber mich zu spotten, wenn ich in diesem Aufzuge durchs Gebirge kam: denn man erlaubt ja gern der Wohlt?tigkeit eine wunderliche Au?enseite.
Indessen hatte sich der Krieg, oder vielmehr die Folge desselben, unserer Gegend gen?hert, indem verschiedenemal gef?hrliche Rotten von verlaufenem Gesindel sich versammelten und hie und da manche Gewaltt?tigkeit, manchen Mutwillen aus��bten. Durch die gute Anstalt der Landmiliz, durch Streifungen und augenblickliche Wachsamkeit wurde dem ��bel zwar bald gesteuert; doch verfiel man zu geschwind wieder in Sorglosigkeit, und ehe man sich's versah, brachen wieder neue ��beltaten hervor.
Lange war es in unserer Gegend still gewesen, und ich zog mit meinem Saumrosse ruhig die gewohnten Pfade, bis ich eines Tages ��ber die frisch bes?te Waldbl??e kam und an dem Rande des Hegegrabens eine weibliche Gestalt sitzend oder vielmehr liegend fand. Sie schien zu schlafen oder ohnm?chtig zu sein. Ich bem��hte mich um sie, und als sie ihre sch?nen Augen aufschlug und sich in die H?he richtete, rief sie mit Lebhaftigkeit aus: "Wo ist er? habt Ihr ihn gesehen?" Ich fragte: "Wen?" Sie versetzte: "Meinen Mann!" Bei ihrem h?chst jugendlichen Ansehen war mir diese Antwort unerwartet; doch fuhr ich nur um desto lieber fort, ihr beizustehen und sie meiner Teilnahme zu versichern. Ich vernahm, da? die beiden Reisenden sich wegen der beschwerlichen Fuhrwege von ihrem Wagen entfernt gehabt, um einen n?hern Fu?weg einzuschlagen. In der N?he seien sie von Bewaffneten ��berfallen worden, ihr Mann habe sich fechtend entfernt, sie habe ihm nicht weit folgen k?nnen und sei an dieser Stelle liegengeblieben, sie wisse nicht wie lange. Sie bitte mich inst?ndig, sie zu verlassen und ihrem Manne nachzueilen. Sie richtete sich auf ihre F��?e, und die sch?nste, liebensw��rdigste Gestalt stand vor mir; doch konnte ich leicht bemerken, da? sie sich in einem Zustande befinde, in welchem sie die Beih��lfe meiner Mutter und der Frau Elisabeth wohl bald bed��rfen m?chte. Wir stritten uns eine Weile: denn ich verlangte, sie erst in Sicherheit zu bringen; sie verlangte zuerst Nachricht von ihrem Manne. Sie wollte sich von seiner Spur nicht entfernen, und alle meine Vorstellungen h?tten vielleicht nicht gefruchtet, wenn nicht eben ein Kommando unserer Miliz, welche durch die Nachricht von neuen ��beltaten rege geworden war, sich durch den Wald her bewegt h?tte. Diese wurden unterrichtet, mit
Continue reading on your phone by scaning this QR Code

 / 59
Tip: The current page has been bookmarked automatically. If you wish to continue reading later, just open the Dertz Homepage, and click on the 'continue reading' link at the bottom of the page.