Wilhelm Meisters Lehrjahre | Page 4

Johann Wolfgang von Goethe
besitzen, das in einem der M?rchen meiner Tante eine sehr wichtige Rolle spielte. Es war ein Sch?fchen, das von einem Bauerm?dchen in dem Walde aufgefangen und ern?hrt worden war, aber in diesem artigen Tiere stak ein verwünschter Prinz, der sich endlich wieder als sch?ner Jüngling zeigte und seine Wohlt?terin durch seine Hand belohnte. So ein Sch?fchen h?tte ich gar zu gerne besessen!
Nun wollte sich aber keines finden, und da alles neben mir so ganz natürlich zuging, mu?te mir nach und nach die Hoffnung auf einen so k?stlichen Besitz fast vergehen. Unterdessen tr?stete ich mich, indem ich solche Bücher las, in denen wunderbare Begebenheiten beschrieben wurden. Unter allen war mir der "Christliche deutsche Herkules" der liebste; die and?chtige Liebesgeschichte war ganz nach meinem Sinne. Begegnete seiner Valiska irgend etwas, und es begegneten ihr grausame Dinge, so betete er erst, eh er ihr zu Hülfe eilte, und die Gebete standen ausführlich im Buche. Wie wohl gefiel mir das! Mein Hang zu dem Unsichtbaren, den ich immer auf eine dunkle Weise fühlte, ward dadurch nur vermehrt; denn ein für allemal sollte Gott auch mein Vertrauter sein.
Als ich weiter heranwuchs, las ich, der Himmel wei? was, alles durcheinander; aber die "R?mische Oktavia" behielt vor allen den Preis. Die Verfolgungen der ersten Christen, in einen Roman gekleidet, erregten bei mir das lebhafteste Interesse.
Nun fing die Mutter an, über das stete Lesen zu schm?len; der Vater nahm ihr zuliebe mir einen Tag die Bücher aus der Hand und gab sie mir den andern wieder. Sie war klug genug zu bemerken, da? hier nichts auszurichten war, und drang nur darauf, da? auch die Bibel ebenso flei?ig gelesen wurde. Auch dazu lie? ich mich nicht treiben, und ich las die heiligen Bücher mit vielem Anteil. Dabei war meine Mutter immer sorgf?ltig, da? keine verführerischen Bücher in meine H?nde k?men, und ich selbst würde jede sch?ndliche Schrift aus der Hand geworfen haben; denn meine Prinzen und Prinzessinnen waren alle ?u?erst tugendhaft, und ich wu?te übrigens von der natürlichen Geschichte des menschlichen Geschlechts mehr, als ich merken lie?, und hatte es meistens aus der Bibel gelernt. Bedenkliche Stellen hielt ich mit Worten und Dingen, die mir vor Augen kamen, zusammen und brachte bei meiner Wi?begierde und Kombinationsgabe die Wahrheit glücklich heraus. H?tte ich von Hexen geh?rt, so h?tte ich auch mit der Hexerei bekannt werden müssen.
Meiner Mutter und dieser Wi?begierde hatte ich es zu danken, da? ich bei dem heftigen Hang zu Büchern doch kochen lernte; aber dabei war etwas zu sehen. Ein Huhn, ein Ferkel aufzuschneiden war für mich ein Fest. Dem Vater brachte ich die Eingeweide, und er redete mit mir darüber wie mit einem jungen Studenten und pflegte mich oft mit inniger Freude seinen mi?ratenen Sohn zu nennen.
Nun war das zw?lfte Jahr zurückgelegt. Ich lernte Franz?sisch, Tanzen und Zeichnen und erhielt den gew?hnlichen Religionsunterricht. Bei dem letzten wurden manche Empfindungen und Gedanken rege, aber nichts, was sich auf meinen Zustand bezogen h?tte. Ich h?rte gern von Gott reden, ich war stolz darauf, besser als meinesgleichen von ihm reden zu k?nnen; ich las nun mit Eifer manche Bücher, die mich in den Stand setzten, von Religion zu schwatzen, aber nie fiel es mir ein zu denken, wie es denn mit mir stehe, ob meine Seele auch so gestaltet sei, ob sie einem Spiegel gleiche, von dem die ewige Sonne widergl?nzen k?nnte; das hatte ich ein für allemal schon vorausgesetzt.
Franz?sisch lernte ich mit vieler Begierde. Mein Sprachmeister war ein wackerer Mann. Er war nicht ein leichtsinniger Empiriker, nicht ein trocknet Grammatiker; er hatte Wissenschaften, er hatte die Welt gesehen. Zugleich mit dem Sprachunterrichte s?ttigte er meine Wi?begierde auf mancherlei Weise. Ich liebte ihn so sehr, da? ich seine Ankunft immer mit Herzklopfen erwartete. Das Zeichnen fiel mir nicht schwer, und ich würde es weiter gebracht haben, wenn mein Meister Kopf und Kenntnisse gehabt h?tte; er hatte aber nur H?nde und übung.
Tanzen war anfangs nur meine geringste Freude; mein K?rper war zu empfindlich, und ich lernte nur in der Gesellschaft meiner Schwester. Durch den Einfall unsers Tanzmeisters, allen seinen Schülern und Schülerinnen einen Ball zu geben, ward aber die Lust zu dieser übung ganz anders belebt.
Unter vielen Knaben und M?dchen zeichneten sich zwei S?hne des Hofmarschalls aus: der jüngste so alt wie ich, der andere zwei Jahre ?lter, Kinder von einer solchen Sch?nheit, da? sie nach dem allgemeinen Gest?ndnis alles übertrafen, was man je von sch?nen Kindern gesehen hatte. Auch ich hatte sie kaum erblickt, so sah ich niemand mehr vom ganzen Haufen. In dem Augenblicke tanzte ich mit Aufmerksamkeit und wünschte sch?n zu tanzen. Wie es kam, da? auch diese Knaben unter allen andern mich vorzüglich bemerkten?--Genug, in der ersten Stunde waren wir die besten Freunde, und die kleine Lustbarkeit ging noch nicht zu Ende, so hatten wir schon ausgemacht, wo wir uns n?chstens wiedersehen wollten. Eine gro?e Freude
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