Wilhelm Meisters Lehrjahre | Page 6

Johann Wolfgang von Goethe
Bild der ganzen Welt zusammen.

Der Alte mochte nun sagen, was er wollte, so hatte Wilhelm immer ein st?rker Argument, wu?te alles zum besten zu kehren und zu wenden, wu?te so brav, so herzlich und tr?stlich zu sprechen, da? der Alte selbst wieder aufzuleben und seinen Grillen zu entsagen schien.

IV. Buch, 2. Kapitel

Zweites Kapitel
Melina hatte Hoffnung, in einer kleinen, aber wohlhabenden Stadt mit seiner Gesellschaft unterzukommen. Schon befanden sie sich an dem Orte, wohin sie die Pferde des Grafen gebracht hatten, und sahen sich nach andern Wagen und Pferden um, mit denen sie weiterzukommen hofften. Melina hatte den Transport ��bernommen und zeigte sich nach seiner Gewohnheit ��brigens sehr karg. Dagegen hatte Wilhelm die sch?nen Dukaten der Gr?fin in der Tasche, auf deren fr?hliche Verwendung er das gr??te Recht zu haben glaubte, und sehr leicht verga? er, da? er sie in der stattlichen Bilanz, die er den Seinigen zuschickte, schon sehr ruhmredig aufgef��hrt hatte.
Sein Freund Shakespeare, den er mit gro?er Freude auch als seinen Paten anerkannte und sich nur um so lieber Wilhelm nennen lie?, hatte ihm einen Prinzen bekannt gemacht, der sich unter geringer, ja sogar schlechter Gesellschaft eine Zeitlang aufh?lt und ungeachtet seiner edlen Natur an der Roheit, Unschicklichkeit und Albernheit solcher ganz sinnlichen Bursche sich erg?tzt. H?chst willkommen war ihm das Ideal, womit er seinen gegenw?rtigen Zustand vergleichen konnte, und der Selbstbetrug, wozu er eine fast un��berwindliche Neigung sp��rte, ward ihm dadurch au?erordentlich erleichtert.
Er fing nun an, ��ber seine Kleidung nachzudenken. Er fand, da? ein Westchen, ��ber das man im Notfall einen kurzen Mantel w��rfe, f��r einen Wanderer eine sehr angemessene Tracht sei. Lange, gestrickte Beinkleider und ein Paar Schn��rstiefeln schienen die wahre Tracht eines Fu?g?ngers. Dann verschaffte er sich eine sch?ne seidne Sch?rpe, die er zuerst unter dem Vorwande, den Leib warm zu halten, umband; dagegen befreite er seinen Hals von der Knechtschaft einer Binde und lie? sich einige Streifen Nesseltuch ans Hemde heften, die aber etwas breit gerieten und das v?llige Ansehen eines antiken Kragens erhielten. Das sch?ne seidne Halstuch, das gerettete Andenken Marianens, lag nur locker gekn��pft unter der nesseltuchnen Krause. Ein runder Hut mit einem bunten Bande und einer gro?en Feder machte die Maskerade vollkommen.
Die Frauen beteuerten, diese Tracht lasse ihm vorz��glich gut. Philine stellte sich ganz bezaubert dar��ber und bat sich seine sch?nen Haare aus, die er, um dem nat��rlichen Ideal nur desto n?herzukommen, unbarmherzig abgeschnitten hatte. Sie empfahl sich dadurch nicht ��bel, und unser Freund, der durch seine Freigebigkeit sich das Recht erworben hatte, auf Prinz Harrys Manier mit den ��brigen umzugehen, kam bald selbst in den Geschmack, einige tolle Streiche anzugeben und zu bef?rdern. Man focht, man tanzte, man erfand allerlei Spiele, und in der Fr?hlichkeit des Herzens geno? man des leidlichen Weins, den man angetroffen hatte, in starkem Ma?e, und Philine lauerte in der Unordnung dieser Lebensart dem spr?den Helden auf, f��r den sein guter Genius Sorge tragen m?ge.
Eine vorz��gliche Unterhaltung, mit der sich die Gesellschaft besonders erg?tzte, bestand in einem extemporierten Spiel, in welchem sie ihre bisherigen G?nner und Wohlt?ter nachahmten und durchzogen. Einige unter ihnen hatten sich sehr gut die Eigenheiten des ?u?ern Anstandes verschiedner vornehmer Personen gemerkt, und die Nachbildung derselben ward von der ��brigen Gesellschaft mit dem gr??ten Beifall aufgenommen, und als Philine aus dem geheimen Archiv ihrer Erfahrungen einige besondere Liebeserkl?rungen, die an sie geschehen waren, vorbrachte, wu?te man sich vor Lachen und Schadenfreude kaum zu lassen.
Wilhelm schalt ihre Undankbarkeit; allein man setzte ihm entgegen, da? sie das, was sie dort erhalten, genugsam abverdient und da? ��berhaupt das Betragen gegen so verdienstvolle Leute, wie sie sich zu sein r��hmten, nicht das beste gewesen sei. Nun beschwerte man sich, mit wie wenig Achtung man ihnen begegnet, wie sehr man sie zur��ckgesetzt habe. Das Spotten, Necken und Nachahmen ging wieder an, und man ward immer bitterer und ungerechter.
"Ich w��nschte", sagte Wilhelm darauf, "da? durch eure ?u?erungen weder Neid noch Eigenliebe durchschiene und da? ihr jene Personen und ihre Verh?ltnisse aus dem rechten Gesichtspunkte betrachtetet. Es ist eine eigene Sache, schon durch die Geburt auf einen erhabenen Platz in der menschlichen Gesellschaft gesetzt zu sein. Wem ererbte Reicht��mer eine vollkommene Leichtigkeit des Daseins verschafft haben, wer sich, wenn ich mich so ausdr��cken darf, von allem Beiwesen der Menschheit von Jugend auf reichlich umgeben findet, gew?hnt sich meist, diese G��ter als das Erste und Gr??te zu betrachten, und der Wert einer von der Natur sch?n ausgestatteten Menschheit wird ihm nicht so deutlich. Das Betragen der Vornehmen gegen Geringere und auch untereinander ist nach ?u?ern Vorz��gen abgemessen; sie erlauben jedem, seinen Titel, seinen Rang, seine Kleider und Equipage, nur nicht seine Verdienste geltend zu machen."
Diesen Worten gab die Gesellschaft einen unm??igen Beifall. Man fand abscheulich, da? der Mann von Verdienst immer zur��ckstehen m��sse und da? in der gro?en Welt keine Spur von nat��rlichem und herzlichem Umgang zu finden sei. Sie kamen
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