Wilhelm Meisters Lehrjahre | Page 9

Johann Wolfgang von Goethe
wahr? Was soll ich
tun? Bleiben und abwarten und aufklären? oder eilen? eilen und mich
einer Entwicklung entgegenstürzen? Du bist auf dem Wege zu ihr und
kannst zaudern? Diesen Abend sollst du sie sehen und willst dich
freiwillig ins Gefängnis einsperren? Es ist ihre Hand, ja sie ist's! Diese
Hand beruft dich, ihr Wagen ist angespannt, dich zu ihr zu führen; nun
löst sich das Rätsel: Lothario hat zwei Schwestern. Er weiß mein
Verhältnis zu der einen; wieviel ich der andern schuldig bin, ist ihm
unbekannt. Auch sie weiß nicht, daß der verwundete Vagabund, der ihr,
wo nicht sein Leben, doch seine Gesundheit verdankt, in dem Hause
ihres Bruders so unverdient gütig aufgenommen worden ist."
Felix, der sich unten im Wagen schaukelte, rief: "Vater, komm! o
komm! sieh die schönen Wolken, die schönen Farben!"--"Ja, ich
komme", rief Wilhelm, indem er die Treppe hinuntersprang, "und alle
Erscheinungen des Himmels, die du gutes Kind noch sehr bewunderst,

sind nichts gegen den Anblick, den ich erwarte."
Im Wagen sitzend, rief er nun alle Verhältnisse in sein Gedächtnis
zurück. "So ist also auch diese Natalie die Freundin Theresens! welch
eine Entdeckung, welche Hoffnung und welche Aussichten! Wie
seltsam, daß die Furcht, von der einen Schwester reden zu hören, mir
das Dasein der andern ganz und gar verbergen konnte!" Mit welcher
Freude sah er seinen Felix an; er hoffte für den Knaben wie für sich die
beste Aufnahme.
Der Abend kam heran, die Sonne war untergegangen, der Weg nicht
der beste, der Postillon fuhr langsam, Felix war eingeschlafen, und
neue Sorgen und Zweifel stiegen in dem Busen unseres Freundes auf.
"Von welchem Wahn, von welchen Einfällen wirst du beherrscht!"
sagte er zu sich selbst, "eine ungewisse ähnlichkeit der Handschrift
macht dich auf einmal sicher und gibt dir Gelegenheit, das
wunderbarste Märchen auszudenken." Er nahm das Billett wieder vor,
und bei dem abgehenden Tageslicht glaubte er wieder die Handschrift
der Gräfin zu erkennen; seine Augen wollten im einzelnen nicht
wiederfinden, was ihm sein Herz im ganzen auf einmal gesagt hatte.
"So ziehen dich denn doch diese Pferde zu einer schrecklichen Szene!
Wer weiß, ob sie dich nicht in wenig Stunden schon wieder
zurückführen werden? Und wenn du sie nur noch allein anträfest; aber
vielleicht ist ihr Gemahl gegenwärtig, vielleicht die Baronesse! Wie
verändert werde ich sie finden! Werde ich vor ihr auf den Füßen stehen
können?"
Nur eine schwache Hoffnung, daß er seiner Amazone entgegengehe,
konnte manchmal durch die trüben Vorstellungen durchblicken. Es war
Nacht geworden, der Wagen rasselte in einen Hof hinein und hielt still;
ein Bedienter mit einer Wachsfackel trat aus einem prächtigen Portal
hervor und kam die breiten Stufen hinunter bis an den Wagen. "Sie
werden schon lange erwartet", sagte er, indem er das Leder aufschlug.
Wilhelm, nachdem er ausgestiegen war, nahm den schlafenden Felix
auf den Arm, und der erste Bediente rief zu einem zweiten, der mit
einem Lichte in der Türe stand: "Führe den Herrn gleich zur
Baronesse."

Blitzschnell fuhr Wilhelmen durch die Seele: "Welch ein Glück! Es sei
vorsätzlich oder zufällig, die Baronesse ist hier! Ich soll sie zuerst
sehen! Wahrscheinlich schläft die Gräfin schon! Ihr guten Geister, helft,
daß der Augenblick der größten Verlegenheit leidlich vorübergehe!"
Er trat in das Haus und fand sich an dem ernsthaftesten, seinem
Gefühle nach dem heiligsten Orte, den er je betreten hatte. Eine
herabhängende blendende Laterne erleuchtete eine breite, sanfte Treppe,
die ihm entgegenstand und sich oben beim Umwenden in zwei Teile
teilte. Marmorne Statuen und Büsten standen auf Piedestalen und in
Nischen geordnet; einige schienen ihm bekannt. Jugendeindrücke
verlöschen nicht, auch in ihren kleinsten Teilen. Er erkannte eine Muse,
die seinem Großvater gehört hatte, zwar nicht an ihrer Gestalt und an
ihrem Wert, doch an einem restaurierten Arme und an den
neueingesetzten Stücken des Gewandes. Es war, als wenn er ein
Märchen erlebte. Das Kind ward ihm schwer; er zauderte auf den
Stufen und kniete nieder, als ob er es bequemer fassen wollte.
Eigentlich aber bedurfte er einer augenblicklichen Erholung. Er konnte
kaum sich wieder aufheben. Der vorleuchtende Bediente wollte ihm
das Kind abnehmen, er konnte es nicht von sich lassen. Darauf trat er in
den Vorsaal, und zu seinem noch größern Erstaunen erblickte er das
wohlbekannte Bild vom kranken Königssohn an der Wand. Er hatte
kaum Zeit, einen Blick darauf zu werfen, der Bediente nötigte ihn
durch ein paar Zimmer in ein Kabinett. Dort, hinter einem Lichtschirme,
der sie beschattete, saß ein Frauenzimmer und las. "O daß sie es wäre!"
sagte er zu sich selbst in diesem entscheidenden Augenblick. Er setzte
das Kind nieder, das aufzuwachen schien, und dachte sich der Dame zu
nähern, aber das Kind sank schlaftrunken zusammen, das
Frauenzimmer stand auf und kam ihm entgegen. Die Amazone war's!
Er konnte sich nicht halten, stürzte auf seine Knie und rief aus: "Sie
ist's!" Er faßte ihre Hand und küßte sie mit
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