Wilhelm Meisters Lehrjahre | Page 9

Johann Wolfgang von Goethe
und unzeitige Gel?chter Jarnos verdrossen. "Sie k?nnen", sagte er, "Ihren Menschenha? nicht ganz verbergen, wenn Sie behaupten, da? diese Fehler allgemein seien."
"Und es zeugt von Ihrer Unbekanntschaft mit der Welt, wenn Sie diese Erscheinungen dem Theater so hoch anrechnen. Wahrhaftig, ich verzeihe dem Schauspieler jeden Fehler, der aus dem Selbstbetrug und aus der Begierde zu gefallen entspringt; denn wenn er sich und andern nicht etwas scheint, so ist er nichts. Zum Schein ist er berufen, er mu? den augenblicklichen Beifall hochsch?tzen, denn er erh?lt keinen andern Lohn; er mu? zu gl?nzen suchen, denn deswegen steht er da."
"Sie erlauben", versetzte Wilhelm, "da? ich von meiner Seite wenigstens l?chele. Nie h?tte ich geglaubt, da? Sie so billig, so nachsichtig sein k?nnten."
"Nein, bei Gott! dies ist mein v?lliger, wohlbedachter Ernst. Alle Fehler des Menschen verzeih ich dem Schauspieler, keine Fehler des Schauspielers verzeih ich dem Menschen. Lassen Sie mich meine Klaglieder hier��ber nicht anstimmen, sie w��rden heftiger klingen als die Ihrigen."
Der Chirurgus kam aus dem Kabinett, und auf Befragen, wie sich der Kranke befinde, sagte er mit lebhafter Freundlichkeit: "Recht sehr wohl, ich hoffe, ihn bald v?llig wiederhergestellt zu sehen." Sogleich eilte er zum Saal hinaus und erwartete Wilhelms Frage nicht, der schon den Mund ?ffnete, sich nochmals und dringender nach der Brieftasche zu erkundigen. Das Verlangen, von seiner Amazone etwas zu erfahren, gab ihm Vertrauen zu Jarno; er entdeckte ihm seinen Fall und bat ihn um seine Beih��lfe. "Sie wissen so viel", sagte er, "sollten Sie nicht auch das erfahren k?nnen?"
Jarno war einen Augenblick nachdenkend, dann sagte er zu seinem jungen Freunde: "Seien Sie ruhig, und lassen Sie sich weiter nichts merken, wir wollen der Sch?nen schon auf die Spur kommen. Jetzt beunruhigt mich nur Lotharios Zustand, die Sache steht gef?hrlich, das sagt mir die Freundlichkeit und der gute Trost des Wundarztes. Ich h?tte Lydien schon gerne weggeschafft, denn sie nutzt hier gar nichts, aber ich wei? nicht, wie ich es anfangen soll. Heute abend, hoff ich, soll unser alter Medikus kommen, und dann wollen wir weiter ratschlagen."

VII. Buch, 4. Kapitel

Viertes Kapitel
Der Medikus kam; es war der gute, alte, kleine Arzt, den wir schon kennen und dem wir die Mitteilung des interessanten Manuskripts verdanken. Er besuchte vor allen Dingen den Verwundeten und schien mit dessen Befinden keinesweges zufrieden. Dann hatte er mit Jarno eine lange Unterredung, doch lie?en sie nichts merken, als sie abends zu Tische kamen.
Wilhelm begr��?te ihn aufs freundlichste und erkundigte sich nach seinem Harfenspieler. "Wir haben noch Hoffnung, den Ungl��cklichen zurechtezubringen", versetzte der Arzt. "Dieser Mensch war eine traurige Zugabe zu Ihrem eingeschr?nkten und wunderlichen Leben", sagte Jarno. "Wie ist es ihm weiter ergangen? Lassen Sie mich es wissen."
Nachdem man Jarnos Neugierde befriedigst hatte, fuhr der Arzt fort: "Nie habe ich ein Gem��t in einer so sonderbaren Lage gesehen. Seit vielen Jahren hat er an nichts, was au?er ihm war, den mindesten Anteil genommen, ja fast auf nichts gemerkt; blo? in sich gekehrt, betrachtete er sein hohles, leeres Ich, das ihm als ein unerme?licher Abgrund erschien. Wie r��hrend war es, wenn er von diesem traurigen Zustande sprach! "Ich sehe nichts vor mir, nichts hinter mir", rief er aus, "als eine unendliche Nacht, in der ich mich in der schrecklichsten Einsamkeit befinde; kein Gef��hl bleibt mir als das Gef��hl meiner Schuld, die doch auch nur wie ein entferntes, unf?rmliches Gespenst sich r��ckw?rts sehen l??t. Doch da ist keine H?he, keine Tiefe, kein Vor noch Zur��ck, kein Wort dr��ckt diesen immer gleichen Zustand aus. Manchmal ruf ich in der Not dieser Gleichg��ltigkeit: 'Ewig! ewig!' mit Heftigkeit aus, und dieses seltsame, unbegreifliche Wort ist hell und klar gegen die Finsternis meines Zustandes. Kein Strahl einer Gottheit erscheint mir in dieser Nacht, ich weine meine Tr?nen alle mir selbst und um mich selbst. Nichts ist mir grausamer als Freundschaft und Liebe, denn sie allein locken mir den Wunsch ab, da? die Erscheinungen, die mich umgeben, wirklich sein m?chten. Aber auch diese beiden Gespenster sind nur aus dem Abgrunde gestiegen, um mich zu ?ngstigen und um mir zuletzt auch das teure Bewu?tsein dieses ungeheuren Daseins zu rauben."
Sie sollten ihn h?ren", fuhr der Arzt fort, "wenn er in vertraulichen Stunden auf diese Weise sein Herz erleichtert; mit der gr??ten R��hrung habe ich ihm einigemal zugeh?rt. Wenn sich ihm etwas aufdringt, das ihn n?tigt, einen Augenblick zu gestehen, eine Zeit sei vergangen, so scheint er wie erstaunt, und dann verwirft er wieder die Ver?nderung an den Dingen als eine Erscheinung der Erscheinungen. Eines Abends sang er ein Lied ��ber seine grauen Haare; wir sa?en alle um ihn her und weinten."
"O schaffen Sie es mir!" rief Wilhelm aus.
"Haben Sie denn aber", fragte Jarno, "nichts entdeckt von dem, was er sein Verbrechen nennt, nicht die Ursache seiner sonderbaren Tracht, sein Betragen beim Brande, seine Wut gegen das Kind?"
"Nur durch Mutma?ungen k?nnen wir seinem Schicksale n?herkommen; ihn unmittelbar zu
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