Wilhelm Meisters Lehrjahre | Page 8

Johann Wolfgang von Goethe
auf das, was wir weggeben. Nicht entschlossen, sondern verzweifelt entsagen wir dem, was wir besitzen. Diese Tage, ich gesteh es, schwebt mir der Graf immer vor Augen, und ich bin fest entschlossen, das aus ��berzeugung zu tun, wozu ihn ein ?ngstlicher Wahn treibt; ich will meine Genesung nicht abwarten. Hier sind die Papiere, sie d��rfen nur ins reine gebracht werden. Nehmen Sie den Gerichtshalter dazu, unser Gast hilft Ihnen auch, Sie wissen so gut als ich, worauf es ankommt, und ich will hier genesend oder sterbend dabei bleiben und ausrufen: "Hier oder nirgend ist Herrnhut!""
Als Lydie ihren Freund von Sterben reden h?rte, st��rzte sie vor seinem Bette nieder, hing an seinen Armen und weinte bitterlich. Der Wundarzt kam herein, Jarno gab Wilhelmen die Papiere und n?tigte Lydien, sich zu entfernen.
"Um 's Himmels willen!" rief Wilhelm, als sie in dem Saal allein waren, "was ist das mit dem Grafen? Welch ein Graf ist das, der sich unter die Br��dergemeinde begibt?"
"Den Sie sehr wohl kennen", versetzte Jarno. "Sie sind das Gespenst, das ihn in die Arme der Fr?mmigkeit jagt, Sie sind der B?sewicht, der sein artiges Weib in einen Zustand versetzt, in dem sie ertr?glich findet, ihrem Manne zu folgen."
"Und sie ist Lotharios Schwester?" rief Wilhelm.
"Nicht anders."
"Und Lothario wei?--?"
"Alles."
"O lassen Sie mich fliehen!" rief Wilhelm aus, "wie kann ich vor ihm stehen? Was kann er sagen?"
"Da? niemand einen Stein gegen den andern aufheben soll und da? niemand lange Reden komponieren soll, um die Leute zu besch?men, er m��?te sie denn vor dem Spiegel halten wollen."
"Auch das wissen Sie?"
"Wie manches andere", versetzte Jarno l?chelnd; "doch diesmal", fuhr er fort, "werde ich Sie so leicht nicht wie das vorige Mal loslassen, und vor meinem Werbesold haben Sie sich auch nicht mehr zu f��rchten. Ich bin kein Soldat mehr, und auch als Soldat h?tte ich Ihnen diesen Argwohn nicht einfl??en sollen. Seit der Zeit, da? ich Sie nicht gesehen habe, hat sich vieles ge?ndert. Nach dem Tode meines F��rsten, meines einzigen Freundes und Wohlt?ters, habe ich mich aus der Welt und aus allen weltlichen Verh?ltnissen herausgerissen. Ich bef?rderte gern, was vern��nftig war, verschwieg nicht, wenn ich etwas abgeschmackt fand, und man hatte immer von meinem unruhigen Kopf und von meinem b?sen Maule zu reden. Das Menschenpack f��rchtet sich vor nichts mehr als vor dem Verstande; vor der Dummheit sollten sie sich f��rchten, wenn sie begriffen, was f��rchterlich ist; aber jener ist unbequem, und man mu? ihn beiseite schaffen, diese ist nur verderblich, und das kann man abwarten. Doch es mag hingehen, ich habe zu leben, und von meinem Plane sollen Sie weiter h?ren. Sie sollen teil daran nehmen, wenn Sie m?gen; aber sagen Sie mir, wie ist es Ihnen ergangen? Ich sehe, ich f��hle Ihnen an, auch Sie haben sich ver?ndert. Wie steht's mit Ihrer alten Grille, etwas Sch?nes und Gutes in Gesellschaft von Zigeunern hervorzubringen?"
"Ich bin gestraft genug!" rief Wilhelm aus, "erinnern Sie mich nicht, woher ich komme und wohin ich gehe. Man spricht viel vom Theater, aber wer nicht selbst darauf war, kann sich keine Vorstellung davon machen. Wie v?llig diese Menschen mit sich selbst unbekannt sind, wie sie ihr Gesch?ft ohne Nachdenken treiben, wie ihre Anforderungen ohne Grenzen sind, davon hat man keinen Begriff. Nicht allein will jeder der erste, sondern auch der einzige sein, jeder m?chte gerne alle ��brigen ausschlie?en und sieht nicht, da? er mit ihnen zusammen kaum etwas leistet; jeder d��nkt sich wunderoriginal zu sein und ist unf?hig, sich in etwas zu finden, was au?er dem Schlendrian ist; dabei eine immerw?hrende Unruhe nach etwas Neuem. Mit welcher Heftigkeit wirken sie gegeneinander! Und nur die kleinlichste Eigenliebe, der beschr?nkteste Eigennutz macht, da? sie sich miteinander verbinden. Vom wechselseitigen Betragen ist gar die Rede nicht; ein ewiges Mi?trauen wird durch heimliche T��cke und sch?ndliche Reden unterhalten; wer nicht liederlich lebt, lebt albern. Jeder macht Anspruch auf die unbedingteste Achtung, jeder ist empfindlich gegen den mindesten Tadel. Das hat er selbst alles schon besser gewu?t! Und warum hat er denn immer das Gegenteil getan? Immer bed��rftig und immer ohne Zutrauen, scheint es, als wenn sie sich vor nichts so sehr f��rchteten als vor Vernunft und gutem Geschmack und nichts so sehr zu erhalten suchten als das Majest?tsrecht ihrer pers?nlichen Willk��r."
Wilhelm holte Atem, um seine Litanei noch weiter fortzusetzen, als ein unm??iges Gel?chter Jarnos ihn unterbrach. "Die armen Schauspieler!" rief er aus, warf sich in einen Sessel und lachte fort: "die armen, guten Schauspieler! Wissen Sie denn, mein Freund", fuhr er fort, nachdem er sich einigerma?en wieder erholt hatte, "da? Sie nicht das Theater, sondern die Welt beschrieben haben und da? ich Ihnen aus allen St?nden genug Figuren und Handlungen zu Ihren harten Pinselstrichen finden wollte? Verzeihen Sie mir, ich mu? wieder lachen, da? Sie glaubten, diese sch?nen Qualit?ten seien nur auf die Bretter gebannt."
Wilhelm fa?te sich, denn wirklich hatte ihn das unb?ndige
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