Wilhelm Meisters Lehrjahre | Page 5

Johann Wolfgang von Goethe
aller Verlegenheit
und sein bisheriges Betragen in das beste Licht setzen sollte. Er
vermied eine eigentliche Erzählung und ließ nur in bedeutenden und
mystischen Ausdrücken dasjenige, was ihm begegnet sein könnte,
erraten. Der gute Zustand seiner Kasse, der Erwerb, den er seinem
Talent schuldig war, die Gunst der Großen, die Neigung der Frauen, die
Bekanntschaft in einem weiten Kreise, die Ausbildung seiner
körperlichen und geistigen Anlagen, die Hoffnung für die Zukunft
bildeten ein solches wunderliches Luftgemälde, daß Fata Morgagna
selbst es nicht seltsamer hätte durcheinanderwirken können.
In dieser glücklichen Exaltation fuhr er fort, nachdem der Brief

geschlossen war, ein langes Selbstgespräch zu unterhalten, in welchem
er den Inhalt des Schreibens rekapitulierte und sich eine tätige und
würdige Zukunft ausmalte. Das Beispiel so vieler edlen Krieger hatte
ihn angefeuert, die Shakespearische Dichtung hatte ihm eine neue Welt
eröffnet, und von den Lippen der schönen Gräfin hatte er ein
unaussprechliches Feuer in sich gesogen. Das alles konnte, das sollte
nicht ohne Wirkung bleiben.
Der Stallmeister kam und fragte, ob sie mit Einpacken fertig seien.
Leider hatte außer Melina noch niemand daran gedacht. Nun sollte man
eilig aufbrechen. Der Graf hatte versprochen, die ganze Gesellschaft
einige Tagereisen weit transportieren zu lassen, die Pferde waren eben
bereit und konnten nicht lange entbehrt werden. Wilhelm fragte nach
seinem Koffer; Madame Melina hatte sich ihn zunutze gemacht; er
verlangte nach seinem Gelde, Herr Melina hatte es ganz unten in den
Koffer mit großer Sorgfalt gepackt. Philine sagte: "Ich habe in dem
meinigen noch Platz", nahm Wilhelms Kleider und befahl Mignon, das
übrige nachzubringen. Wilhelm mußte es, nicht ohne Widerwillen,
geschehen lassen.
Indem man aufpackte und alles zubereitete, sagte Melina: "Es ist mir
verdrießlich, daß wir wie Seiltänzer und Marktschreier reisen; ich
wünschte, daß Mignon Weiberkleider anzöge und daß der
Harfenspieler sich noch geschwinde den Bart scheren ließe." Mignon
hielt sich fest an Wilhelm und sagte mit großer Lebhaftigkeit: "Ich bin
ein Knabe: ich will kein Mädchen sein!" Der Alte schwieg, und Philine
machte bei dieser Gelegenheit über die Eigenheit des Grafen, ihres
Beschützers, einige lustige Anmerkungen. "Wenn der Harfner seinen
Bart abschneidet", sagte sie, "so mag er ihn nur sorgfältig auf Band
nähen und bewahren, daß er ihn gleich wieder vornehmen kann, sobald
er dem Herrn Grafen irgendwo in der Welt begegnet: denn dieser Bart
allein hat ihm die Gnade dieses Herrn verschafft."
Als man in sie drang und eine Erklärung dieser sonderbaren äußerung
verlangte, ließ sie sich folgendergestalt vernehmen: "Der Graf glaubt,
daß es zur Illusion sehr viel beitrage, wenn der Schauspieler auch im
gemeinen Leben seine Rolle fortspielt und seinen Charakter souteniert;
deswegen war er dem Pedanten so günstig, und er fand, es sei recht
gescheit, daß der Harfner seinen falschen Bart nicht allein abends auf
dem Theater, sondern auch beständig bei Tage trage, und freute sich

sehr über das natürliche Aussehen der Maskerade."
Als die andern über diesen Irrtum und über die sonderbaren Meinungen
des Grafen spotteten, ging der Harfner mit Wilhelm beiseite, nahm von
ihm Abschied und bat mit Tränen, ihn ja sogleich zu entlassen.
Wilhelm redete ihm zu und versicherte, daß er ihn gegen jedermann
schützen werde, daß ihm niemand ein Haar krümmen, viel weniger
ohne seinen Willen abschneiden solle.
Der Alte war sehr bewegt, und in seinen Augen glühte ein sonderbares
Feuer. "Nicht dieser Anlaß treibt mich hinweg", rief er aus; "schon
lange mache ich mir stille Vorwürfe, daß ich um Sie bleibe. Ich sollte
nirgends verweilen, denn das Unglück ereilt mich und beschädigt die,
die sich zu mir gesellen. Fürchten Sie alles, wenn Sie mich nicht
entlassen, aber fragen Sie mich nicht, ich gehöre nicht mir zu, ich kann
nicht bleiben."
"Wem gehörst du an? Wer kann eine solche Gewalt über dich
ausüben?"
"Mein Herr, lassen Sie mir mein schaudervolles Geheimnis, und geben
Sie mich los! Die Rache, die mich verfolgt, ist nicht des irdischen
Richters; ich gehöre einem unerbittlichen Schicksale; ich kann nicht
bleiben, und ich darf nicht!"
"In diesem Zustande, in dem ich dich sehe, werde ich dich gewiß nicht
lassen."
"Es ist Hochverrat an Ihnen, mein Wohltäter, wenn ich zaudre. Ich bin
sicher bei Ihnen, aber Sie sind in Gefahr. Sie wissen nicht, wen Sie in
Ihrer Nähe hegen. Ich bin schuldig, aber unglücklicher als schuldig.
Meine Gegenwart verscheucht das Glück, und die gute Tat wird
ohnmächtig, wenn ich dazutrete. Flüchtig und unstet sollt ich sein, daß
mein unglücklicher Genius mich nicht einholet, der mich nur langsam
verfolgt und nur dann sich merken läßt, wenn ich mein Haupt
niederlegen und ruhen will. Dankbarer kann ich mich nicht bezeigen,
als wenn ich Sie verlasse."
"Sonderbarer Mensch! du kannst mir das Vertrauen in dich so wenig
nehmen als die Hoffnung, dich glücklich zu sehen. Ich will in die
Geheimnisse deines Aberglaubens nicht eindringen; aber wenn du ja in
Ahnung wunderbarer Verknüpfungen und Vorbedeutungen lebst, so
sage ich dir zu deinem
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