Wilhelm Meisters Lehrjahre | Page 7

Johann Wolfgang von Goethe
so soll Ihr Brief gleich besorgt
werden, und damit Sie diese wunderbare Begebenheit verstehen, von
der Sie Augenzeuge sind, muß ich Ihnen erzählen, was eigentlich kein
Geheimnis ist. Der Baron hatte ein kleines Abenteuer mit einer Dame,
das mehr Aufsehen machte, als billig war, weil sie den Triumph, ihn
einer Nebenbuhlerin entrissen zu haben, allzu lebhaft genießen wollte.
Leider fand er nach einiger Zeit bei ihr nicht die nämliche Unterhaltung,
er vermied sie; allein bei ihrer heftigen Gemütsart war es ihr unmöglich,
ihr Schicksal mit gesetztem Mute zu tragen. Bei einem Balle gab es
einen öffentlichen Bruch, sie glaubte sich äußerst beleidigt und
wünschte gerächt zu werden; kein Ritter fand sich, der sich ihrer
angenommen hätte, bis endlich ihr Mann, von dem sie sich lange
getrennt hatte, die Sache erfuhr und sich ihrer annahm, den Baron
herausforderte und heute verwundete; doch ist der Obrist, wie ich höre,
noch schlimmer dabei gefahren."
Von diesem Augenblicke an ward unser Freund im Hause, als gehöre er
zur Familie, behandelt.

VII. Buch, 3. Kapitel

Drittes Kapitel
Man hatte einigemal dem Kranken vorgelesen; Wilhelm leistete diesen
kleinen Dienst mit Freuden. Lydie kam nicht vom Bette hinweg, ihre
Sorgfalt für den Verwundeten verschlang alle ihre übrige
Aufmerksamkeit, aber heute schien auch Lothario zerstreut, ja er bat,
daß man nicht weiterlesen möchte.
"Ich fühle heute so lebhaft", sagte er, "wie töricht der Mensch seine
Zeit verstreichen läßt! Wie manches habe ich mir vorgenommen, wie
manches durchdacht, und wie zaudert man nicht bei seinen besten
Vorsätzen! Ich habe die Vorschläge über die Veränderungen gelesen,
die ich auf meinen Gütern machen will, und ich kann sagen, ich freue
mich vorzüglich dieserwegen, daß die Kugel keinen gefährlichern Weg
genommen hat."
Lydie sah ihn zärtlich, ja mit Tränen in den Augen an, als wollte sie
fragen, ob denn sie, ob seine Freunde nicht auch Anteil an der

Lebensfreude fordern könnten. Jarno dagegen versetzte:
"Veränderungen, wie Sie vorhaben, werden billig erst von allen Seiten
überlegt, bis man sich dazu entschließt."
"Lange überlegungen", versetzte Lothario, "zeigen gewöhnlich, daß
man den Punkt nicht im Auge hat, von dem die Rede ist, übereilte
Handlungen, daß man ihn gar nicht kennt. Ich übersehe sehr deutlich,
daß ich in vielen Stücken bei der Wirtschaft meiner Güter die Dienste
meiner Landleute nicht entbehren kann und daß ich auf gewissen
Rechten strack und streng halten muß; ich sehe aber auch, daß andere
Befugnisse mir zwar vorteilhaft, aber nicht ganz unentbehrlich sind, so
daß ich davon meinen Leuten auch was gönnen kann. Man verliert
nicht immer, wenn man entbehrt. Nutze ich nicht meine Güter weit
besser als mein Vater? Werde ich meine Einkünfte nicht noch höher
treiben? Und soll ich diesen wachsenden Vorteil allein genießen? Soll
ich dem, der mit mir und für mich arbeitet, nicht auch in dem Seinigen
Vorteile gönnen, die uns erweiterte Kenntnisse, die uns eine
vorrückende Zeit darbietet?"
"Der Mensch ist nun einmal so!" rief Jarno, "und ich tadle mich nicht,
wenn ich mich auch in dieser Eigenheit ertappe; der Mensch begehrt,
alles an sich zu reißen, um nur nach Belieben damit schalten und
walten zu können; das Geld, das er nicht selbst ausgibt, scheint ihm
selten wohl angewendet."
"O ja!" versetzte Lothario, "wir könnten manches vom Kapital
entbehren, wenn wir mit den Interessen weniger willkürlich umgingen."
"Das einzige, was ich zu erinnern habe", sagte Jarno, "und warum ich
nicht raten kann, daß Sie eben jetzt diese Veränderungen machen,
wodurch Sie wenigstens im Augenblicke verlieren, ist, daß Sie selbst
noch Schulden haben, deren Abzahlung Sie einengt. Ich würde raten,
Ihren Plan aufzuschieben, bis Sie völlig im reinen wären."
"Und indessen einer Kugel oder einem Dachziegel zu überlassen, ob er
die Resultate meines Lebens und meiner Tätigkeit auf immer
vernichten wollte! Oh, mein Freund!" fuhr Lothario fort, "das ist ein
Hauptfehler gebildeter Menschen, daß sie alles an eine Idee, wenig
oder nichts an einen Gegenstand wenden mögen. Wozu habe ich
Schulden gemacht? Warum habe ich mich mit meinem Oheim entzweit?
meine Geschwister so lange sich selbst überlassen? als um einer Idee
willen. In Amerika glaubte ich zu wirken, über dem Meere glaubte ich

nützlich und notwendig zu sein; war eine Handlung nicht mit tausend
Gefahren umgeben, so schien sie mir nicht bedeutend, nicht würdig.
Wie anders seh ich jetzt die Dinge, und wie ist mir das Nächste so wert,
so teuer geworden."
"Ich erinnere mich wohl des Briefes", versetzte Jarno, "den ich noch
über das Meer erhielt. Sie schrieben mir: Ich werde zurückkehren und
in meinem Hause, in meinem Baumgarten, mitten unter den Meinigen
sagen: "Hier oder nirgend ist Amerika!""
"Ja, mein Freund, und ich wiederhole noch immer dasselbe, und doch
schelte ich mich zugleich, daß ich hier nicht so tätig wie dort bin. Zu
einer gewissen gleichen, fortdauernden Gegenwart brauchen wir nur
Verstand, und wir werden auch nur zu Verstand, so daß wir das
Außerordentliche, was
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