Wilhelm Meisters Lehrjahre | Page 6

Johann Wolfgang von Goethe
ein; dieser fand den Abbe
schon im Saale; Lothario, hieß es, sei ausgeritten; der Abbe war nicht
sehr gesprächig und schien eher nachdenklich zu sein; er fragte nach
Aureliens Tode und hörte mit Teilnahme der Erzählung Wilhelms zu.
"Ach!" rief er aus, "wem es lebhaft und gegenwärtig ist, welche

unendliche Operationen Natur und Kunst machen müssen, bis ein
gebildeter Mensch dasteht, wer selbst soviel als möglich an der Bildung
seiner Mitbrüder teilnimmt, der möchte verzweifeln, wenn er sieht, wie
freventlich sich oft der Mensch zerstört und so oft in den Fall kommt,
mit oder ohne Schuld, zerstört zu werden. Wenn ich das bedenke, so
scheint mir das Leben selbst eine so zufällige Gabe, daß ich jeden loben
möchte, der sie nicht höher als billig schätzt."
Er hatte kaum ausgesprochen, als die Türe mit Heftigkeit sich aufriß,
ein junges Frauenzimmer hereinstürzte und den alten Bedienten, der
sich ihr in den Weg stellte, zurückstieß. Sie eilte gerade auf den Abbe
zu und konnte, indem sie ihn beim Arm faßte, vor Weinen und
Schluchzen kaum die wenigen Worte hervorbringen: "Wo ist er? Wo
habt ihr ihn? Es ist eine entsetzliche Verräterei! Gesteht nur! Ich weiß,
was vorgeht! Ich will ihm nach! Ich will wissen, wo er ist."
"Beruhigen Sie sich, mein Kind", sagte der Abbe mit angenommener
Gelassenheit, "kommen Sie auf Ihr Zimmer, Sie sollen alles erfahren,
nur müssen Sie hören können, wenn ich Ihnen erzählen soll." Er bot ihr
die Hand an im Sinne, sie wegzuführen. "Ich werde nicht auf mein
Zimmer gehen", rief sie aus, "ich hasse die Wände, zwischen denen ihr
mich schon so lange gefangenhaltet! Und doch habe ich alles erfahren,
der Obrist hat ihn herausgefordert, er ist hinausgeritten, seinen Gegner
aufzusuchen, und vielleicht jetzt eben in diesem Augenblicke--es war
mir etlichemal, als hörte ich schießen. Lassen Sie anspannen und fahren
Sie mit mir, oder ich fülle das Haus, das ganze Dorf mit meinem
Geschrei."
Sie eilte unter den heftigsten Tränen nach dem Fenster, der Abbe hielt
sie zurück und suchte vergebens, sie zu besänftigen.
Man hörte einen Wagen fahren, sie riß das Fenster auf: "Er ist tot!" rief
sie, "da bringen sie ihn."--"Er steigt aus!" sagte der Abbe. "Sie sehen,
er lebt."--"Er ist verwundet", versetzte sie heftig, "sonst käm er zu
Pferde! Sie führen ihn! Er ist gefährlich verwundet!" Sie rannte zur
Türe hinaus und die Treppe hinunter, der Abbe eilte ihr nach, und
Wilhelm folgte ihnen; er sah, wie die Schöne ihrem heraufkommenden
Geliebten begegnete.
Lothario lehnte sich auf seinen Begleiter, welchen Wilhelm sogleich
für seinen alten Gönner Jarno erkannte, sprach dem trostlosen
Frauenzimmer gar liebreich und freundlich zu, und indem er sich auch

auf sie stützte, kam er die Treppe langsam herauf; er grüßte Wilhelmen
und ward in sein Kabinett geführt.
Nicht lange darauf kam Jarno wieder heraus und trat zu Wilhelmen:
"Sie sind, wie es scheint", sagte er, "prädestiniert, überall Schauspieler
und Theater zu finden; wir sind eben in einem Drama begriffen, das
nicht ganz lustig ist."
"Ich freue mich", versetzte Wilhelm, "Sie in diesem sonderbaren
Augenblicke wiederzufinden; ich bin verwundert, erschrocken, und
Ihre Gegenwart macht mich gleich ruhig und gefaßt. Sagen Sie mir, hat
es Gefahr? Ist der Baron schwer verwundet?"--"Ich glaube nicht",
versetzte Jarno.
Nach einiger Zeit trat der junge Wundarzt aus dem Zimmer. "Nun, was
sagen Sie?" rief ihm Jarno entgegen. "Daß es sehr gefährlich steht",
versetzte dieser und steckte einige Instrumente in seine lederne Tasche
zusammen.
Wilhelm betrachtete das Band, das von der Tasche herunterhing, er
glaubte es zu kennen. Lebhafte, widersprechende Farben, ein seltsames
Muster, Gold und Silber in wunderlichen Figuren zeichneten dieses
Band vor allen Bändern der Welt aus. Wilhelm war überzeugt, die
Instrumententasche des alten Chirurgus vor sich zu sehen, der ihn in
jenem Walde verbunden hatte, und die Hoffnung, nach so langer Zeit
wieder eine Spur seiner Amazone zu finden, schlug wie eine Flamme
durch sein ganzes Wesen.
"Wo haben Sie die Tasche her?" rief er aus. "Wem gehörte sie vor
Ihnen? Ich bitte, sagen Sie mir's."--"Ich habe Sie in einer Auktion
gekauft", versetzte jener; "was kümmert's mich, wem sie angehörte?"
Mit diesen Worten entfernte er sich, und Jarno sagte: "Wenn diesem
jungen Menschen nur ein wahres Wort aus dem Munde ginge."--"So
hat er also diese Tasche nicht erstanden?" versetzte Wilhelm. "Sowenig,
als es Gefahr mit Lothario hat", antwortete Jarno.
Wilhelm stand in ein vielfaches Nachdenken versenkt, als Jarno ihn
fragte, wie es ihm zeither gegangen sei. Wilhelm erzählte seine
Geschichte im allgemeinen, und als er zuletzt von Aureliens Tod und
seiner Botschaft gesprochen hatte, rief jener aus: "Es ist doch sonderbar,
sehr sonderbar!"
Der Abbe trat aus dem Zimmer, winkte Jarno zu, an seiner Statt
hineinzugehen, und sagte zu Wilhelmen: "Der Baron läßt Sie ersuchen,

hierzubleiben, einige Tage die Gesellschaft zu vermehren und zu seiner
Unterhaltung unter diesen Umständen beizutragen. Haben Sie nötig,
etwas an die Ihrigen zu bestellen,
Continue reading on your phone by scaning this QR Code

 / 35
Tip: The current page has been bookmarked automatically. If you wish to continue reading later, just open the Dertz Homepage, and click on the 'continue reading' link at the bottom of the page.