Wilhelm Meisters Lehrjahre | Page 7

Johann Wolfgang von Goethe
seine Stimme, je gehaltner und gemessener sein ganzes Wesen ist, desto vollkommner ist er. Wenn er gegen Hohe und Niedre, gegen Freunde und Verwandte immer ebenderselbe bleibt, so ist nichts an ihm auszusetzen, man darf ihn nicht anders wünschen. Er sei kalt, aber verst?ndig; verstellt, aber klug. Wenn er sich ?u?erlich in jedem Momente seines Lebens zu beherrschen wei?, so hat niemand eine weitere Forderung an ihn zu machen, und alles übrige, was er an und um sich hat, F?higkeit, Talent, Reichtum, alles scheinen nur Zugaben zu sein.
Nun denke dir irgendeinen Bürger, der an jene Vorzüge nur einigen Anspruch zu machen ged?chte; durchaus mu? es ihm mi?lingen, und er mü?te desto unglücklicher werden, je mehr sein Naturell ihm zu jener Art zu sein F?higkeit und Trieb gegeben h?tte.
Wenn der Edelmann im gemeinen Leben gar keine Grenzen kennt, wenn man aus ihm K?nige oder k?nig?hnliche Figuren erschaffen kann, so darf er überall mit einem stillen Bewu?tsein vor seinesgleichen treten; er darf überall vorw?rtsdringen, anstatt da? dem Bürger nichts besser ansteht als das reine, stille Gefühl der Grenzlinie, die ihm gezogen ist. Er darf nicht fragen: "Was bist du?" sondern nur: "Was hast du? welche Einsicht, welche Kenntnis, welche F?higkeit, wieviel Verm?gen?" Wenn der Edelmann durch die Darstellung seiner Person alles gibt, so gibt der Bürger durch seine Pers?nlichkeit nichts und soll nichts geben. Jener darf und soll scheinen; dieser soll nur sein, und was er scheinen will, ist l?cherlich oder abgeschmackt. Jener soll tun und wirken, dieser soll leisten und schaffen; er soll einzelne F?higkeiten ausbilden, um brauchbar zu werden, und es wird schon vorausgesetzt, da? in seinem Wesen keine Harmonie sei noch sein dürfe, weil er, um sich auf eine Weise brauchbar zu machen, alles übrige vernachl?ssigen mu?.
An diesem Unterschiede ist nicht etwa die Anma?ung der Edelleute und die Nachgiebigkeit der Bürger, sondern die Verfassung der Gesellschaft selbst schuld; ob sich daran einmal etwas ?ndern wird und was sich ?ndern wird, bekümmert mich wenig; genug, ich habe, wie die Sachen jetzt stehen, an mich selbst zu denken und wie ich mich selbst und das, was mir ein unerl??liches Bedürfnis ist, rette und erreiche.
Ich habe nun einmal gerade zu jener harmonischen Ausbildung meiner Natur, die mir meine Geburt versagt, eine unwiderstehliche Neigung. Ich habe, seit ich dich verlassen, durch Leibesübung viel gewonnen; ich habe viel von meiner gew?hnlichen Verlegenheit abgelegt und stelle mich so ziemlich dar. Ebenso habe ich meine Sprache und Stimme ausgebildet, und ich darf ohne Eitelkeit sagen, da? ich in Gesellschaften nicht mi?falle. Nun leugne ich dir nicht, da? mein Trieb t?glich unüberwindlicher wird, eine ?ffentliche Person zu sein und in einem weitern Kreise zu gefallen und zu wirken. Dazu k?mmt meine Neigung zur Dichtkunst und zu allem, was mit ihr in Verbindung steht, und das Bedürfnis, meinen Geist und Geschmack auszubilden, damit ich nach und nach auch bei dem Genu?, den ich nicht entbehren kann, nur das Gute wirklich für gut, und das Sch?ne für sch?n halte. Du siehst wohl, da? das alles für mich nur auf dem Theater zu finden ist und da? ich mich in diesem einzigen Elemente nach Wunsch rühren und ausbilden kann. Auf den Brettern erscheint der gebildete Mensch so gut pers?nlich in seinem Glanz als in den obern Klassen; Geist und K?rper müssen bei jeder Bemühung gleichen Schritt gehen, und ich werde da so gut sein und scheinen k?nnen als irgend anderswo. Suche ich daneben noch Besch?ftigungen, so gibt es dort mechanische Qu?lereien genug, und ich kann meiner Geduld t?gliche übung verschaffen.
Disputiere mit mir nicht darüber; denn eh du mir schreibst, ist der Schritt schon geschehen. Wegen der herrschenden Vorurteile will ich meinen Namen ver?ndern, weil ich mich ohnehin sch?me, als Meister aufzutreten. Lebe wohl. Unser Verm?gen ist in so guter Hand, da? ich mich darum gar nicht bekümmere; was ich brauche, verlange ich gelegentlich von dir; es wird nicht viel sein, denn ich hoffe, da? mich meine Kunst auch n?hren soll."
Der Brief war kaum abgeschickt, als Wilhelm auf der Stelle Wort hielt und zu Serlos und der übrigen gro?en Verwunderung sich auf einmal erkl?rte: da? er sich zum Schauspieler widme und einen Kontrakt auf billige Bedingungen eingehen wolle. Man war hierüber bald einig, denn Serlo hatte schon früher sich so erkl?rt, da? Wilhelm und die übrigen damit gar wohl zufrieden sein konnten. Die ganze verunglückte Gesellschaft, mit der wir uns so lange unterhalten haben, ward auf einmal angenommen, ohne da? jedoch, au?er etwa Laertes, sich einer gegen Wilhelmen dankbar erzeigt h?tte. Wie sie ohne Zutrauen gefordert hatten, so empfingen sie ohne Dank. Die meisten wollten lieber ihre Anstellung dem Einflusse Philinens zuschreiben und richteten ihre Danksagungen an sie. Indessen wurden die ausgefertigten Kontrakte unterschrieben, und durch eine unerkl?rliche Verknüpfung von Ideen entstand vor Wilhelms Einbildungskraft in dem Augenblicke, als er seinen fingierten Namen unterzeichnete, das Bild jenes Waldplatzes, wo er verwundet
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