Wilhelm Meisters Lehrjahre | Page 6

Johann Wolfgang von Goethe
treffend. An einigen Orten hast du Fehler in der Addition gemacht, die jedoch sehr verzeihlich sind.
Was aber mich und meinen Vater am meisten und h?chsten freut, sind deine gründlichen Einsichten in die Bewirtschaftung und besonders in die Verbesserung der Feldgüter. Wir haben Hoffnung, ein gro?es Gut, das in Sequestration liegt, in einer sehr fruchtbaren Gegend zu erkaufen. Wir wenden das Geld, das wir aus dem v?terlichen Hause l?sen, dazu an; ein Teil wird geborgt, und ein Teil kann stehenbleiben; und wir rechnen auf dich, da? du dahin ziehst, den Verbesserungen vorstehst, und so kann, um nicht zuviel zu sagen, das Gut in einigen Jahren um ein Drittel an Wert steigen; man verkauft es wieder, sucht ein gr??eres, verbessert und handelt wieder, und dazu bist du der Mann. Unsere Federn sollen indes zu Hause nicht mü?ig sein, und wir wollen uns bald in einen beneidenswerten Zustand versetzen.
Jetzt lebe wohl! Genie?e das Leben auf der Reise und ziehe hin, wo du es vergnüglich und nützlich findest. Vor dem ersten halben Jahre bedürfen wir deiner nicht; du kannst dich also nach Belieben in der Welt umsehen: denn die beste Bildung findet ein gescheiter Mensch auf Reisen. Lebe wohl, ich freue mich, so nahe mit dir verbunden, auch nunmehr im Geist der T?tigkeit mit dir vereint zu werden."
So gut dieser Brief geschrieben war und soviel ?konomische Wahrheiten er enthalten mochte, mi?fiel er doch Wilhelmen auf mehr als eine Weise. Das Lob, das er über seine fingierten statistischen, technologischen und ruralischen Kenntnisse erhielt, war ihm ein stiller Vorwurf; und das Ideal, das ihm sein Schwager vom Glück des bürgerlichen Lebens vorzeichnete, reizte ihn keineswegs; vielmehr ward er durch einen heimlichen Geist des Widerspruchs mit Heftigkeit auf die entgegengesetzte Seite getrieben. Er überzeugte sich, da? er nur auf dem Theater die Bildung, die er sich zu geben wünschte, vollenden k?nne, und schien in seinem Entschlusse nur desto mehr best?rkt zu werden, je lebhafter Werner, ohne es zu wissen, sein Gegner geworden war. Er fa?te darauf alle seine Argumente zusammen und best?tigte bei sich seine Meinung nur um desto mehr, je mehr er Ursache zu haben glaubte, sie dem klugen Werner in einem günstigen Lichte darzustellen, und auf diese Weise entstand eine Antwort, die wir gleichfalls einrücken.

V. Buch, 3. Kapitel

Drittes Kapitel
"Dein Brief ist so wohl geschrieben und so gescheit und klug gedacht, da? sich nichts mehr dazusetzen l??t. Du wirst mir aber verzeihen, wenn ich sage, da? man gerade das Gegenteil davon meinen, behaupten und tun und doch auch recht haben kann. Deine Art, zu sein und zu denken, geht auf einen unbeschr?nkten Besitz und auf eine leichte, lustige Art zu genie?en hinaus, und ich brauche dir kaum zu sagen, da? ich daran nichts, was mich reizte, finden kann.
Zuerst mu? ich dir leider bekennen, da? mein Tagebuch aus Not, um meinem Vater gef?llig zu sein, mit Hülfe eines Freundes aus mehreren Büchern zusammengeschrieben ist und da? ich wohl die darin enthaltenen Sachen und noch mehrere dieser Art wei?, aber keineswegs verstehe noch mich damit abgeben mag. Was hilft es mir, gutes Eisen zu fabrizieren, wenn mein eigenes Inneres voller Schlacken ist? und was, ein Landgut in Ordnung zu bringen, wenn ich mit mir selber uneins bin?
Da? ich dir's mit einem Worte sage: mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden, das war dunkel von Jugend auf mein Wunsch und meine Absicht. Noch hege ich ebendiese Gesinnungen, nur da? mir die Mittel, die mir es m?glich machen werden, etwas deutlicher sind. Ich habe mehr Welt gesehen, als du glaubst, und sie besser benutzt, als du denkst. Schenke deswegen dem, was ich sage, einige Aufmerksamkeit, wenn es gleich nicht ganz nach deinem Sinne sein sollte.
W?re ich ein Edelmann, so w?re unser Streit bald abgetan; da ich aber nur ein Bürger bin, so mu? ich einen eigenen Weg nehmen, und ich wünsche, da? du mich verstehen m?gest. Ich wei? nicht, wie es in fremden L?ndern ist, aber in Deutschland ist nur dem Edelmann eine gewisse allgemeine, wenn ich sagen darf personelle Ausbildung m?glich. Ein Bürger kann sich Verdienst erwerben und zur h?chsten Not seinen Geist ausbilden; seine Pers?nlichkeit geht aber verloren, er mag sich stellen, wie er will. Indem es dem Edelmann, der mit den Vornehmsten umgeht, zur Pflicht wird, sich selbst einen vornehmen Anstand zu geben, indem dieser Anstand, da ihm weder Tür noch Tor verschlossen ist, zu einem freien Anstand wird, da er mit seiner Figur, mit seiner Person, es sei bei Hofe oder bei der Armee, bezahlen mu?: so hat er Ursache, etwas auf sie zu halten und zu zeigen, da? er etwas auf sie h?lt. Eine gewisse feierliche Grazie bei gew?hnlichen Dingen, eine Art von leichtsinniger Zierlichkeit bei ernsthaften und wichtigen kleidet ihn wohl, weil er sehen l??t, da? er überall im Gleichgewicht steht. Er ist eine ?ffentliche Person, und je ausgebildeter seine Bewegungen, je sonorer
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