Wie Wiselis Weg gefunden wird Erzahlung | Page 5

Johanna Spyri
ohne da? die Mutter zum Nachtgebet an ihre Betten gekommen war.
Als nun alles still und ruhig war, kam die Mutter wieder zu den Herren zur��ck und setzte sich gem��tlich hin.
"Endlich", sagte da der Oberst aufatmend, als habe er eine harte Schlacht hinter sich. "Siehst du, Max, erst geh?rt meine Frau dem Schreiner Andres, dann ihren Kindern und dann ihrem Mann, wenn noch etwas ��brigbleibt."
"Und siehst du, Max", sagte die Mutter lachend, "wenn mein Mann noch so spottet--er mag unseren guten Schreiner Andres gerade so gern wie wir alle. Gestehe es nur ein, Otto! Eben hat mir Andres auch f��r dich noch einen Auftrag ��bergeben, er hat seine j?hrliche Summe gebracht und bittet um deine Hilfe."
"Das ist wahr", sagte der Oberst, "einen ordentlicheren, flei?igeren, zuverl?ssigeren Mann kenne ich nicht. Dem w��rde ich Weib und Kind und Hab und Gut und alles anvertrauen wie keinem anderen. Das ist der ehrlichste Mann in unserer ganzen Gemeinde und noch weit dar��ber hinaus."
"Jetzt siehst du, Max", sagte die Frau lachend, "ich konnte doch nicht mehr sagen."
Ihr Bruder lachte mit ��ber den Eifer, in den der Oberst unversehens gefallen war. Dann entgegnete er: "Nun habt ihr mir alle so viel von eurem Wundermann vorerz?hlt, da? ich wirklich wissen m?chte, woher er stammt und wie er aussieht. Habe ich ihn denn noch nicht hier gesehen?"
"Ach, du hast ihn ja so gut gekannt, Max", entgegnete seine Schwester. "Du mu?t dich noch an den Andres erinnern, mit dem wir zur Schule gingen. Wei?t du denn nicht mehr, wie zwei Br��der zusammen in derselben Klasse mit dir waren? Der ?ltere war damals schon ein rechter Taugenichts. Er war nicht dumm, aber tat nichts und blieb darum stecken und kam dann mit dem viel j��ngeren Bruder in eine Klasse zusammen, in der du auch warst. Du mu?t dich gewi? erinnern, er hie? J?rg und hatte ganz schwarzes, steifes Haar. Er bewarf uns, wo er konnte, mit irgend etwas, mit unreifen ?pfeln und Birnen und dann mit Schneeb?llen, und rief uns ��berall nach: 'Aristokratenbrut!'"
"Oh, der!" rief Onkel Max lachend, "ja, nun wei? ich auf einmal alles. Richtig, 'Aristokratenbrut' rief er uns best?ndig nach. Ich m?chte nur wissen, wie ihm das Wort in den Sinn kam. Er war ein widerw?rtiger Kerl. Da sah ich ihn einmal einen viel kleineren Jungen ganz unbarmherzig durchpr��geln. Dem half ich aber, daf��r rief er mir mindestens zw?lfmal nach: 'Aristokratenbrut!' Ach, nun wei? ich auch auf einmal, wer der andere war. Das war der magere, kleine Andres, sein Bruder, das ist gewi? euer Andres. Und dann ist das auch der Andres mit den Veilchen, nicht wahr, Marie? Oh, jetzt verstehe ich schon die dicke Freundschaft." Onkel Max lachte aufs neue auf.
"Was f��r Veilchen? Das mu? ich wissen", fiel der Oberst ein.
"Oh, die Geschichte ist mir auf einmal vor Augen, als w?re sie gestern geschehen", sagte der Onkel ganz angeregt von seinen Erinnerungen. "Die mu? ich dir erz?hlen, Otto. Du wei?t vielleicht durch deine Frau, da? wir hier im Dorf in jenen gl��cklichen Zeiten unserer Kindheit einen alten Schullehrer hatten, der fand, da? alle M?ngel der Schulkinder aus ihnen heraus- und alle F?higkeiten und guten Eigenschaften in sie hineingepr��gelt werden k?nnten. So war er gezwungen, sehr viel zu pr��geln, um den einen oder andern guten Zweck zu erreichen, manchmal auch beide auf einmal. Einmal nun war ihm der magere Andres unter die Hand gekommen. Dem schlug er nun so kr?ftig seine wohlgemeinte Ermahnung auf den R��cken, da? der Andres laut aufschrie. In diesem Augenblick stand meine kleine Schwester, die k��rzlich in die Schule eingetreten war und sich noch nicht so recht in die dort herrschenden Gebr?uche eingelebt hatte, pl?tzlich auf von ihrem Sitz in der ersten Bank. Sie lief eilig zur T��r. Der Schullehrer hielt inne mit seiner Arbeit und rief ihr nach: 'Wohin l?ufst du?' Marie kehrte sich um. Die hellen Tr?nen liefen ihr ��ber die Backen, und sie sagte ganz aufrichtig: 'Ich will heimgehen und es dem Papa sagen.' 'Wart, ich will dir!' rief jetzt der Schullehrer ��berrascht und st��rzte vom Andres weg auf die kleine Marie los. Die pr��gelte er aber nicht, er nahm sie nur beim Arm und setzte sie ziemlich fest auf ihren Platz hin. Dann sagte er noch einmal: 'Wart, ich will dir!' Damit war aber alles abgetan. Auch der Andres wurde in Ruhe gelassen, und so nahm alles einen friedlichen Ausgang. Aber die Tr?nen, die meine Schwester f��r den Andres vergossen hatte, und ihr Einschreiten gegen den Tyrannen wurden nicht vergessen. Von dem Tag an lag jeden Morgen ein Strau? Veilchen auf ihrem Platz und durchduftete den ganzen Schulraum. Und nachher kam noch ein anmutigerer Duft von dem Platz her, denn da lagen gro?e Erdbeerstr?u?e mit den pr?chtigsten dunkelroten Beeren, wie sie sonst nirgends zu sehen waren. Und so ging es das ganze Jahr durch immerfort. Wie sich dann aber die Freundschaft
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