Was die Großmutter gelehrt hat | Page 3

Johanna Spyri
vielem Kummer und Leid. Das kleine Trineli
entwickelte sich schnell und lohnte der guten Großmutter ihre Mühe
und Arbeit mit einer ungewöhnlichen Liebe und Anhänglichkeit. Sie
hatten viele lustige Stunden miteinander, denn das Kind war immer so
beweglich und lebendig wie ein munteres Fischlein im Wasser. Mit
jedem Jahre wurde es der Großmutter lieber und unentbehrlicher.
Alle diese vergangenen Tage stiegen nun in der Dämmerung vor der
alten Waschkäthe auf, und der Gedanke, das Kind so weit und
vielleicht für alle Zeit von sich zu schicken, machte ihr das Herz immer
schwerer. Aber sie kannte einen Tröster, der ihr schon in vielen trüben
Stunden geholfen und auch manches gefürchtete Leid gemildert hatte.
Den wollte sie doch nicht vergessen. Lieber, als so die schweren
Gedanken hin- und herzuwälzen in ihrem Innern, wollte sie jetzt die
ganze Sache dem lieben Gott übergeben. Mußte es sein und mußte sie
dieses Leid der Trennung ertragen, so hatte doch der liebe Gott seine
schützende Hand dabei. Es konnte ja alles zum Besten des Kindes
geschehen, und sein Wohl ging ihr noch über das eigene. Als die
Großmutter dies alles überlegt hatte, faltete sie still die Hände und
sagte andächtig vor sich hin:
"Drum, meine Seele, sei du still Zu Gott, wie sich's gebühret, Wenn er
dich so, wie er es will, Und nicht wie du willst führet. Kommt dann
zum Ziel der dunkle Lauf, Tust du den Mund mit Freuden auf, Zu

loben und zu danken."

2. Kapitel
In den Erdbeeren
Während die alte Käthe so gedankenverloren erst an ihrem Spinnrad
und dann in der Dämmerung saß, ging es oben am Sonnenrain ziemlich
laut zu. Hier wuchs jedes Jahr eine Fülle der schönsten, saftigsten
Erdbeeren. Wenn sie reif waren, schien es oft, als ob ein großer,
dunkelroter Teppich vom Sonnenrain herunterhinge, der in der Sonne
glühte. Der Platz war den Kindern von Hochtannen, wie das kleine, aus
zerstreuten Häusern bestehende Bergdörfchen hieß, wohlbekannt. Sie
wußten auch recht gut, daß, wenn man die Beeren ausreifen ließ, ein
schöner Gewinn damit zu erzielen war. Denn diese ungewöhnlich
großen, saftigen Beeren wurden überall gern gekauft. So gaben die
Kinder selbst acht aufeinander, daß nicht etwa die einen zu früh die
Beeren holten, bevor sie die rechte Reife erlangt hatten. Erscholl aber
an einem schönen Junitag unter den Schulkindern der Ruf: "Sie sind
reif am Sonnenrain! Sie sind reif!", dann stürzte noch an demselben
Abend die ganze Schar hinaus zum Sonnenrain. Jedes Kind hatte einen
Korb in der Hand, und sie liefen, so schnell sie konnten, denn jedes
wollte zuerst auf dem Platz sein und die schönsten und reifsten Beeren
finden.
Die mitgebrachten, Körbe, Kratten genannt, hatten alle dieselbe Form,
aber verschiedene Größen. Sie hatten die Form von Zylinderhüten, mit
dem Unterschied, daß bei diesen die Öffnung unten ist, wo der Kopf
hineingesteckt wird, bei jenen aber oben, wo die Erdbeeren
hineingeworfen werden. Wenn dann die Dämmerung gekommen war
und man die Beeren nicht mehr sehen konnte, wurde die Arbeit beendet.
Dann deckte man die Kratten mit großen Blättern zu und befestigte
zwei hölzerne Stäbchen kreuzweise darüber, damit der Wind die Blätter
nicht entführe. Nun stimmte man das Erdbeerlied an, und voller
Fröhlichkeit zog die ganze Schar heimwärts. Alle sangen aus vollen
Kehlen:

Erdbeeren rollen, Die Kratten all, die vollen, Erdbeeren mit Stielen,
Jetzt trägt man sie heim die vielen, Erdbeeren an Ästen, Die meinen
sind die besten!
Am schnellsten und am fleißigsten aber von allen war die Enkelin der
alten Waschkäthe, das lustige Trini. Immer wußte es, wo die schönsten
Beeren standen und wo noch am wenigsten gepflückt worden war.
Dann schoß es dahin und rupfte mit einer Gewandtheit, daß kein
anderes Kind schneller war und die Langsamen in seiner Nähe gar
nichts erwischten. Auf einen kleinen Stoß kam es dem Trini dabei auch
nicht an, wenn ihm eine schöne Stelle besonders ins Auge fiel, wo
schon ein anderes Kind Beeren sammelte. Niemals aß es von den
Früchten, bis sein Kratten so voll war, daß es eben noch die hölzernen
Stäbchen über den Blättern festmachen konnte, ohne die zarten Früchte
zusammen zu drücken. Erst dann kamen noch einige der süßduftenden
Beeren in den Mund und schmeckten herrlich nach der harten Arbeit.
Vorher hätten sie aber dem Trini gar nicht geschmeckt, denn es war
ihm, als gehörten sie alle der Großmutter, bis keine einzige Beere mehr
in den Kratten hineinging.
Das Trini strengte sich sehr an, für seine liebe Großmutter auch etwas
zu tun. Es fühlte wohl, wie aufopfernd und gut sie zu ihm war und wie
hart sie immer noch arbeitete, damit sie beide keinen Mangel leiden
mußten. Es hatte auch sein Leben lang nie andere, als liebevolle Worte
von ihr gehört. Und wie oft hatte es gespürt, daß sie viel lieber sich
selbst als ihm etwas versagte. Dafür hing es auch mit dem ganzen
Herzen an der Großmutter,
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