Von der Seele | Page 9

Carl Ludwig Schleich
und das Schneider-meck-meck-meck ist
durchaus der Ausdruck der fadenscheinigen, zart gebauten Konstitution
dieses Ritters von der Nadel, wie das tiefe Bariton-Ao der Wucht des
Schmiedes und dem Ernst des Priesters eigen ist. Die helle Kopfstimme
der Kinder und der Frauen schafft das Silberlachen der Soprane, das
süß wie Zauberglöckchen klingen kann, und die tiefe Resonanz der
Altistinnen ergibt, ebenfalls aus dem Bau der individuellen
Klangbildner, den weihevollen sonoren Timbre, in dem sich Stolz mit
schluchzender Wehmut paart. Dieses Spiel der Einatmung, Verharren
auf der Atmungshöhe, stoßweise Ausatmen unter Glottissprengung und
Vokalklang bei gleichzeitiger Beteiligung mimischer Aktion:
Mundöffnung, A-Stellung der Lippen, Winkel- und Grübchenbildung
der Wangen, Nüsternspiel, Augenschluß und Tätigkeit aller auch bei
der Atemnot mobilen Hilfsmuskeln, wiederholt sich in schneller Folge
mehrmals hintereinander, bis oft nur der physische Schmerz der
malträtierten Leibespresse Einhalt gebietet: "Hören Sie auf, ich kann
nicht mehr, ich platze." Dabei ist zu bemerken, daß Tränenstrom nicht
allzu selten diesen die höchste Lebenslust betätigenden Akt begleitet.
Wie merkwürdig: höchste Lust und das Symptom des Schmerzes
verbunden in einer Funktion! Wir werden sehen, wie diese
Brüderschaft von Freud und Leid beim Lachen ein Wegweiser zum

Verständnis des ganzen Vorganges werden kann. Es ist nicht Zufall,
daß man weint, während man lacht. Hier steckt einer der Schlüssel zum
Verständnis des Humors.
Halten wir zunächst fest: das Lachen ist ein automatischer Vorgang,
eine affektive Handlung rhythmisch-muskulärer Atmungstätigkeit.
Welche Stellung hat dieser Vorgang im Haushalt physischer Arbeit?
Um diese Frage zu beantworten, muß ich erstens Analogien
herbeiziehen und zweitens mich auf den Weg
entwicklungsgeschichtlicher Analyse begeben. Daß auch andere
affektive Spannungen im Gehirn mehr oder weniger rhythmische
Muskelaktionen in Szene setzen, beweist, daß auch bei anderen als den
humoristischen Motiven im Gehirn die explosiv-elektrische Ladung,
gleichsam die Seelenzündung, den Muskelapparat in Bewegung
bringen kann. Was ist die Affekthandlung überhaupt anderes als die
Entladung von ungehemmten Seelenspannungen auf das Muskelgebiet?
Viele energische Reize treffen vor der Affekthandlung, im Spiel der
Motive, das Gehirn; es vermag nicht gleich im logischen Gebiet Herr
der Problemstimmungen zu werden und die entstandene Qual in Logik,
Phantasie oder Willensaktion aufzulösen; eine ungemütliche Spannung
entsteht, bei gleichzeitigem Kampf verschiedener, unhemmbarer
Vorstellungen: "Was soll ich tun, was lassen?" Unorientiertheit,
Verblüfftheit, Abwehr und Duldung, Stachelung, Trieb und Gegentrieb
prallen in der Seele aufeinander: nach dem Gesetz der Erhaltung der
Kraft muß auch jeder psychische Reiz seinen logischen oder
muskulären Ausgleich finden, denn es _gibt gewiß ebenso ein
psychisches Äquivalent, wie es ein physisches gibt_. Wie benimmt sich
da ein also um Rat Verlegener: er pellt an den Lippen, dreht den
Schnurrbart, durchwühlt die Haare, trommelt an den Fensterscheiben,
stampft mit den Füßen, läuft unruhig auf und ab, hin und her, d.h. er
versucht seine Affektspannung im Gemüt durch Umsetzung in
Muskelaktion loszuwerden. Oder aber: eine schallende Ohrfeige, oft
auch in rhythmischer Wiederholung nach rechts und links, ein jähes
Wort, eine rasche Tat löst plötzlich ohne Kontrolle der mahnenden und
hemmenden Mutter Vernunft die mehr als ungemütliche, meist

gefährliche Seelenbeklemmung. Dann erst wird die Denkbahn frei:
"Herr Gott, was hast du getan!" und nur der Konfliktsschmerz, die
Reue, das Gefühl, der Situation unterlegen zu sein, und der Mut, die
Folgen dulden zu wollen, vermögen die Wirkungen des seelischen
Sturmwindes zu beschwichtigen und das köstliche Öl friedlichen
Verzichtes über die hohen Wogen der psychischen Ekstase zu breiten.
Was geschieht beim Gähnen? Auch hier wird ein Konflikt zwischen
Hirnhemmung und Hirnaktion, der Überschuß geistiger Spannung, der
unter der aufgestülpten Tarnkappe der Müdigkeit (Hirnhemmung)
keinen Ausgleich mehr im Denkorgan finden kann, durch
Muskelkrämpfe (Gähnkrampf) nach außen abgeleitet, gleichsam wie
man mit der Leydener Flasche die Konduktoren einer
Elektrisiermaschine in einzelnen Phasen entlädt. Beim Gähnen ist also
ein oft wiederkehrender Vorgang physischer Spannungen im Gehirn
gewohnheitsmäßig auf eine bestimmte Bahn der automatischen
Muskeltätigkeit abgelenkt, wozu auch das Recken und Strecken vor
Müdigkeit abends und morgens gehört. Wir haben hier also eine
Analogie mit dem Lachen, die so weit geht, daß auch beim Gähnen die
Gehirnspannung auf einer besonderen Bahn, gerade der
Atmungsfunktionen, ihre Entladung findet. Da auch das Gähnen, wie
jede Affekthandlung, unwillkürlich ist, d.h. gar nicht oder nur mit
Anstrengung vom Willen gehemmt werden kann, und da beide, Gähnen
und Affekthandlungen, auf einen unvollzogenen Spannungsausgleich
im Gehirn gedeutet werden müssen, so können wir einen zwingenden
Rückschluß auf das Lachen wagen, d.h. wir sind genötigt, anzunehmen,
daß auch das Lachen einen muskulären Ausgleich besonderer
Spannungen im Gehirn darstellt. Welcher Art sind diese? Mit der
Beantwortung dieser Frage werden wir zu einer Definition des Humors,
d.h. der humoristischen Reizungen des Seelenorgans, gelangen. Dazu
bedürfen wir aber noch eines Ausblickes auf die
Entwickelungsgeschichte.
Nehmen wir den Menschen nicht als ein Gebild aus Gottes Hand, fertig
mit all seinen erhabenen Eigenschaften, Fehlern und Tugenden, mit
einem Schlage erschaffen, sondern nehmen wir in _Darwins_--übrigens
gottgläubigem--Sinne an, daß der Schöpfer eine allmähliche

Entwicklung zugelassen und gewollt hat, so wäre es denkbar, daß das
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