Von der Seele | Page 5

Carl Ludwig Schleich
in den
Hecken, bis ein einziger Ritterkuß den hemmenden, bannenden
Zauberschlaf hinwegscheucht? In sich geschlossen, in immer gleichem
Rhythmus um sich selber kreisend, liegen die anorganischen Bausteine
wie in einer undurchdringlichen Zauberkapsel, bis der Keim der
Befruchtung eindringt, die Hemmung aufschließt und sich das Werk
vollendet. Was ist denn Zeugung und Ernährung anderes, als ein ewiger
Austausch verschiedenartigster rhythmischer Spannkräfte auf kleinstem
Raum der Zellsubstanzen zusammengepreßt, ein dauerndes
Kartenmischen tierischer und pflanzlicher Rhythmenträger
durcheinander? Was ist Arzenei- und Giftwirkung anders, als das
Eingreifen aufgesammelter, von der Sonne akkumulierter Spannkräfte
in die Rhythmen des organischen Geschehens? Wie kann eine
Außenkraft dem inneren Gefüge anders nützen, als indem sie
Schwungkraft den ermattenden Rhythmen hinzufügt? Das Leben wird
nur vom Leben gepeitscht, getrieben, emporgehoben wie der brodelnde
Schaum der Flüssigkeiten, in die ein Tröpfchen Säure fällt. Auch in
chemischen Verbindungen werden Hemmungsketten fortgerissen,
damit latente Kräfte zu neuen Formenkreisen sich stabilisieren. Ich will
das berauschende Bild, wo Rhythmus sich zum Rhythmus gesellt, um
neue Formen hervorzubringen, nicht weiter ausspinnen, es genügt mir,
die Möglichkeit betont zu haben, daß das Leben nichts ist als eine neue,
durch Hemmungsfortfall ermöglichte rhythmische Wellenform der
sogenannten unbelebten Kräfte. In diesem Sinne kann in der Tat das

Leben rhythmisch als eine Synkope des Weltallrhythmus, als eine
Sondertaktbewegung, nur scheinbar losgetrennt von der Symphonie des
Ganzen, definiert werden. Es mag einen langen Schlaf gehabt haben im
ewigen Barbarossagrab: der Felsen brach, die Hemmung fiel, und die
junge Majestät des Organischen stieg auf den Thron der Erde.
Wenn wir diese Anschauungen in uns lebendig werden fühlen, so muß
natürlich zwingend das Motiv des Rhythmischen in allen Phasen des
menschlichen Betriebes, körperlich und geistig, nachweisbar sein. Es
ist längst bekannt, welche Rolle die Periodizität im Körperlichen und
Geistigen spielt, wie die ganze Summe physischen und psychischen
Geschehens in unserem Leibe und unserer Seele in dauernder
Abhängigkeit vom Rhythmus ist, von dem wiederum gar nicht anders
zu denken ist, als daß er in Harmonie mit dem Welttakte sein muß, um
nicht einfach hinweggefegt zu werden vom Schwungrad des Kosmos,
wie ein Sonnenstäubchen vom wehenden Atem. Ich will niemand
behelligen mit der Aufzählung aller physiologischen und
pathologischen Periodizitäten, den Bedingungen des Pulsschlags und
der Atmungszahl, den periodischen Sekretionen, Schlaf und Wachsein,
Pubertät und Adynamie, Ein- und Ausgabe der Nahrungsmittel, nicht
mit der Rhythmik der Schmerzanfälle, der Krämpfe, der Zuckungen,
Wallungen und Blutungen, ich will nur verweilen bei dem
psycho-physischen Grundgesetz des Rhythmischen auch im
menschlichen Leben und will den Mechanismus zu ergründen suchen,
auf dem sich auch dieses psycho-physische Geschehen auf einem
Widerspiel zwischen Aktion und Hemmung, als dem eigentlichen
Grunde der Rhythmik, aufbauen läßt. Ich muß hier bemerken, daß ich
alles seelische Geschehen in Abhängigkeit setze von einer Aktion der
Nervenströme und einem Hemmungsmechanismus, einer Art
periodischer Isolation durch die Neuroglia, bzw. von dem sie
durchströmenden Blutsafte, welcher ja nach Ritters Untersuchungen
aus Biers Schule in der Tat stromhemmende, Nervenerregungen
einbettende Kraft hat. Danach ist es leicht, sich vorzustellen, daß das
mit dem Herzpulse einströmende Blut periodisch die Ganglien außer
Kontakt setzt und daß die Pause der Herzbewegung diejenige Zeit ist,
innerhalb welcher die Ganglien Anschlußfreiheit besitzen. Die Ärzte
wissen, welche Rolle Blutmischungsanomalien für die Art der

Anschlüsse im Gehirn spielen, wie ein verdünntes, hemmungsarmes
Blut naturgemäß zu Erregungen und Unruhen, Ängsten und
Wahnvorstellungen und Schmerzempfindungen disponiert; wie Hunger
und Krankheit, veränderte innere Sekretion ein ganzes Heer abnormer
Nervenstörungen hervorrufen kann. Sie wissen alle, wie die
Herausnahme der Schilddrüse unter Überladung des Blutes mit
Hemmungssäften, wie bekannt, auch den geistreichsten Menschen zu
einem Idioten machen kann. Wir wissen, daß die Nebennieren einen
Stoff produzieren, welcher selbst auf peripheren Nerven die
allerenergischste Stromausschaltung zuwege bringt, und den
Irrenärzten ist bekannt, wie wichtig ein normaler
Hemmungsmechanismus für den Bestand der Seele ist.
Es kann keine Frage sein, daß, wenn der Blutsaft die ihm von mir
vindizierte Kraft der Ein- und Ausschaltung besitzt, das eigentliche
Wesen der Persönlichkeit, das Temperament eine Frage der
rhythmischen größeren oder geringeren Reaktionsfähigkeit der
Nervenzentren sein muß, daß die Zahl der aufgenommenen Eindrücke
and ihre Verarbeitung zu Vorstellungs- und Willensimpulsen in
direkter Abhängigkeit von rhythmischen Individualitäten sein muß, die
wiederum in Abhängigkeit von der rhythmisch ein- und ausschaltenden
Saftfüllung des Gehirns steht. Der alte Volksglaube von dem leichten
und schweren Blute findet hier also seine durchaus plausible
wissenschaftliche Begründung; das Menschenherz ist nicht nur die
grobmechanische Druckpumpe für Blutbewegungen, es spielt in seinen
rhythmischen Zuckungen auch für das Nerven- und Gemütsleben eine
wichtige, wenn auch bisher noch wenig gewürdigte Rolle. Aber noch in
einem ganz anderen Sinne ist die Herzbewegung der eigentliche
Manometer der harmonischen Einstellung des Nervenlebens in den
Gesamtrhythmus aller Erscheinungen. Schon _Ernst v. Baer_ hat die
geistreiche Frage gewagt, wie wohl unsere Wahrnehmungen sich
anders gestalten würden, wenn wir nicht, wie jetzt, in einer Sekunde
etwa zehn Einzelwahrnehmungen zu apperzipieren fähig wären, in
einem Zeitraum, der durchschnittlich genau übereinstimmt
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