Vom This, der doch etwas wird | Page 9

Johanna Spyri
"Komm, Franz Anton, heute ist's heiß, wir
wollen ein Glas Wein im Schatten trinken", sagte er und zog den Senn
zu dem Wirtshaus.
Der Franz Anton war durstig und weigerte sich nicht, hier ein wenig im
Schatten zu sitzen. Er trank sein Glas in einem Zug aus. Dann aber
stand er bald auf und sagte, es werde ihm ganz unwohl hier unten in der
schweren, heißen Luft und er sei an kalte Milch und Wasser, nicht an
den Wein gewöhnt. Damit verabschiedete er sich und ging mit großen
Schritten auf den Berghang zu. Aber so schwer war ihm das Steigen in

seinem Leben noch nie gefallen. Die Mittagsonne brannte heiß auf
seinen Kopf, alle seine Pulse hämmerten, die Füße wurden ihm so
schwer, daß er sie nur mit Mühe heben konnte. Je steiler die Alm wurde,
je größer wurden seine Schritte. Und er spornte sich selbst mit der
Aussicht an, daß nur noch eine Stunde, dann nur noch eine halbe, jetzt
nur noch eine Viertelstunde heißer Mühe vor ihm liege. Dann würde er
oben sein und könne sich zum Ausruhen auf das frische Heu werfen.
Jetzt war er am letzten steilen Aufstieg angekommen. Die Sonne
brannte wie Feuer auf seinen Kopf. Plötzlich wurde es ihm völlig
schwarz vor den Augen, er schwankte, und schwer stürzte er auf den
Boden nieder. Er hatte das Bewußtsein verloren.
Als am Abend der Melker mit seiner Milch in die Stube trat, sah er, daß
der Franz Anton noch nicht zurückgekehrt war. Er stellte seine Milch in
eine Ecke und ging fort. Er dachte nicht daran, nach dem Senn
auszuschauen.
Es war aber noch jemand da oben, der hatte schon lange auf den Franz
Anton gewartet, das war der This. Schon seit ein paar Stunden hatte er
an seinem verborgenen Plätzchen gesessen. Er kannte jeden Schritt, den
der Senn tat. Er wußte, wie eine Beschäftigung auf die andere folgte, so
daß er sich nicht genug wundern konnte, wie lange heute der Franz
Anton seine Milch stehen ließ. Sonst goß er sie immer gleich in die
verschiedenen Gefäße. Die eine kam zum Buttern in die großen, runden
Becken, wo sie stehenblieb, bis aller Rahm schön dick obenauf lag. Die
andere wurde in den Käsekessel gegossen, das hatte der This durch die
offene Hüttentür alles genau beobachten können. Der Senn kam immer
noch nicht. Der Junge fühlte, daß irgend etwas geschehen sein mußte.
Er kam jetzt leise aus seinem Versteck heraus und ging zur Sennhütte.
Da war es still und leer unten im Hüttenraum und oben auf dem
Heuboden. Kein Feuer prasselte unter dem Kessel, kein Laut war zu
hören, alles wie ausgestorben. Ängstlich lief der This jetzt um die Hütte
herum, einmal hinunter, dann wieder herauf und dann in einer anderen
Richtung wieder hinab. Jetzt auf einmal--dort unten erblickte er den
Franz Anton, der am Boden lag. This sprang hinzu--da lag sein Freund
mit geschlossenen Augen und stöhnte und lechzte wie ein Sterbender.

Er sah glühend heiß aus, und seine Lippen waren ganz vertrocknet.
Der This stand einen Augenblick still und starrte, bleich vor Schrecken,
auf seinen Wohltäter. Dann stürzte er in schnellem Lauf den Berg
hinunter. Franz Anton hatte viele Stunden lang bewußtlos am Boden
gelegen. Ein schreckliches Fieber hatte ihn ergriffen. Er litt an einem
verzehrenden Durst. Von Zeit zu Zeit kam es ihm in seinem
brennenden Verlangen vor, er komme zum Wasser und wolle sich
bücken und trinken. Und von der Anstrengung erwachte er für einen
Augenblick, denn es war nur ein Fiebertraum gewesen.
Er lag immer noch auf dem Boden und konnte sich nicht rühren.
Vergebens lechzte er nach einem Tropfen Wasser. Dann schwand ihm
das Bewußtsein wieder, und er träumte, er liege unten im Sumpfloch,
wo er heute früh im Vorübergehen noch die schönen Erdbeeren
gesehen hatte. Da standen sie noch. Oh, wie sehnte er sich danach! Er
wollte die Hand ausstrecken, aber vergeblich, er konnte keine greifen.
Aber jetzt hatte er plötzlich eine im Mund. Ein Engel kniete da und
hatte sie ihm gegeben--und noch eine und noch eine. Oh, wie tat ihm
der Saft gut in dem ausgetrockneten Gaumen! Der Franz Anton
schlürfte und schluckte, es war ein unsägliches Labsal. Er erwachte.
War das alles Wirklichkeit? Es war kein Traum. Da kniete neben ihm
der Engel und steckte ihm wieder eine große saftige Erdbeere in den
Mund.
"O du guter Engel, noch eine", sagte leise der Franz Anton. Aber nicht
nur eine, fünf, sechs steckte ihm der Engel in den Mund. Auf einmal
flog ein stechender Schmerz über sein Gesicht. Er legte die Hand an die
Stirn und konnte nur noch leise sagen: "Wasser", dann war ihm das
Bewußtsein wieder völlig entschwunden. Er konnte nicht einmal mehr
die letzte Erdbeere genießen. Jetzt träumte er ganz schreckliche Dinge.
Sein Kopf wurde so groß wie sein allergrößtes Butterfaß und dann
immer noch größer
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