Vom This, der doch etwas wird | Page 7

Johanna Spyri

Vor der Hütte setzte er sich auf den Boden. Und während der Senn zum
Schwemmebach hinüberging, biß er in sein Butterbrot hinein und biß
immer wieder und konnte nicht begreifen, daß es etwas so Gutes gäbe
und er es bekommen hätte.
Inzwischen wehte frisch und wohlig der Abendwind um seinen Kopf
und wiegte unten die Tannenbäumchen hin und her, und der kleine
Vogel saß immer noch auf dem höchsten Zweig und sang hell und
fröhlich in den goldenen Abendhimmel hinauf. Dem This ging das
ganze Herz in nie gekanntem Wohlsein auf, und er meinte, er müsse
laut mit dem Vogel zu singen anfangen.
Der Senn war in der Zeit ein paarmal mit seinem Kesselchen hin und
her gegangen. Drüben beim Schwemmebach war er immer eine Weile
stehengeblieben und hatte rundum geschaut. Die Berge waren nicht
mehr rot vom Abendschein, aber jetzt stieg groß und golden der volle
Mond hinter dem weißen Zacken empor. Nun kam der Senn wieder zur
Hütte zurück und stellte sich vor den This, der noch auf derselben
Stelle saß.
"So gefällt's dir hier?" fragte er freundlich. "Mit dem Abendessen bist
du fertig, wie ich sehe. Du mußt dich auf den Rückweg machen. Sieh,
wie schön dir der Mond heimleuchtet!"
Der This hatte gar nicht mehr ans Fortgehen gedacht. Aber jetzt fiel
ihm ein, daß es wohl nötig sei. Er stand auf, dankte noch einmal dem

Franz Anton und ging. Aber er kam nicht weiter als bis zu den
Tannenbäumchen, es hielt ihn mit Gewalt zurück. Er schaute noch
einmal zurück, und da der Senn in die Hütte getreten war und ihn nicht
mehr sehen konnte, huschte er schnell unter die dunklen Zweige. Franz
Anton war der einzige Mensch, der ihn in seinem ganzen Leben mit
Güte und Liebe behandelt hatte. Das hatte auf den This einen solchen
Eindruck gemacht, daß er nicht fort konnte. Er mußte noch ein wenig in
der Nähe dieses guten Menschen bleiben. This lag ganz verborgen
unter den Bäumchen und spähte zu der Hütte hinauf, ob er den Senn
nicht noch einmal sähe. Es dauerte einige Zeit, da plötzlich trat Franz
Anton wirklich noch einmal aus seiner Hütte heraus.
Er blieb vor der Tür stehen und schaute mit gekreuzten Armen in die
stille Bergwelt hinaus, wo jetzt über alle hohen Schneegipfel hin das
milde Mondlicht leuchtete. Auch auf das Gesicht des Sennen fiel jetzt
der helle Mondschein, und This konnte den Ausdruck der friedlichen
Heiterkeit sehen. Dann faltete er seine Hände. Er hielt wohl still seine
Abendandacht. Dann auf einmal sagte er ganz laut: "Gute Nacht geb
euch Gott!" trat in die Hütte zurück und machte die Tür zu. Sein
Nachtgruß hatte wohl seinen alten Freunden, den hohen Bergen
ringsum und den Menschen gegolten, die er liebte. Der This hatte in
stiller Ehrfurcht zu dem Franz Anton aufgeschaut. Er fühlte Liebe und
Bewunderung für den Senn, Gefühle, die er bisher nicht gekannt hatte.
Als es nun ganz dunkel und still in der Hütte wurde, stand der This auf
und lief, so schnell er konnte, den Berg hinunter.
Es war spät und kein Lichtlein mehr zu sehen. Aber das war ihm gleich,
die Tür war ja nie geschlossen. Er trat leise ins Häuschen und schlich
zu seinem Lager, das er mit dem Uli zu teilen hatte. Dieser schlief steif
und fest, nachdem er noch vorher ausgerufen hatte: "Es ist bequem, daß
der This auch jetzt zu dumm wird, sein Bett zu finden. So hat man doch
Platz!"
This legte sich leise nieder. Und bis seine Augen zufielen, sah er immer
noch den Franz Anton vor sich, wie er im Mondschein mit gefalteten
Händen vor seiner Hütte stand. Zum erstenmal in seinem Leben schlief
der This mit einem glücklichen Herzen ein.

3. Kapitel
Ein hilfreicher Engel
Der Tag darauf war ein Sonntag. Die Kinder, die an der Halde wohnten,
mußten nach Beckenried hinunter zur Kirche. Trotz des langen Weges
gingen die Kinder jeden Sonntag zum Religionsunterricht, denn der
Herr Pfarrer hielt fest an der alten Ordnung. So kam eben jetzt die
ganze Schar den Berghang herunter, und bald saßen sie alle mit
anderen Kindern so ruhig wie möglich auf den langen Bänken, und der
Herr Pfarrer konnte beginnen. Er sagte, er habe ihnen das letztemal von
einem zukünftigen Leben gesprochen, und da sein Blick eben auf den
This fiel, fuhr er fort: "Ich will dich auch einmal wieder etwas fragen,
das wirst du wohl beantworten können, wenn man dir auch nicht viel
zutrauen kann. Sag mir: Wo wird es denn einmal auch dem Ärmsten
und Geringsten unter uns, wenn er ein frommes Leben geführt hat, so
wohl werden, daß er kein Leid verspürt?"
"Bei der Schwemmebachsennhütte", antwortete der This ohne Zögern.
Jetzt entstand ein solches Kichern, daß der This ganz scheu um sich
schaute. Ringsum waren spöttische Blicke auf ihn gerichtet, und alle
Kinder wollten vor
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