Viola Tricolor | Page 2

Theodor W. Storm
Fenster, vor dem im Abendschein die Schwalben
kreuzten; dann drückte sie die Klinke auf.
Es war das Studierzimmer ihres Vaters, das sie sonst in seiner
Abwesenheit nicht zu betreten pflegte; nun war sie ganz allein
zwischen den hohen Repositorien, die mit ihren unzähligen Büchern so
ehrfurchtgebietend umherstanden. Als sie zögernd die Tür hinter sich
zugedrückt hatte, wurde unter einem zur Linken von derselben
befindlichen Fenster der mächtige Anschlag eines Hundes laut. Ein
Lächeln flog über die ernsten Züge des Kindes; sie ging rasch an das
Fenster und blickte hinaus. Drunten breitete sich der große Garten des
Hauses in weiten Rasen- und Gebüschpartien aus; aber ihr vierbeiniger
Freund schien schon andere Wege eingeschlagen zu haben; sosehr sie
spähte, nichts war zu entdecken. Und wie Schatten fiel es allmählich
wieder über das Gesicht des Kindes; sie war ja zu was anderem
hergekommen; was ging sie jetzt der Nero an!
Nach Westen hinaus, der Tür, durch welche sie eingetreten, gegenüber,
hatte das Zimmer noch ein zweites Fenster. An der Wand daneben, so

daß das Licht dem daran Sitzenden zur Hand fiel, befand sich ein
großer Schreibtisch mit dem ganzen Apparat eines gelehrten
Altertumsforschers; Bronzen und Terrakotten aus Rom und
Griechenland, kleine Modelle antiker Tempel und Häuser und andere
dem Schutt der Vergangenheit entstiegene Dinge, füllten fast den
ganzen Aufsatz desselben. Darüber aber, wie aus blauen
Frühlingslüften heraustretend, hing das lebensgroße Brustbild einer
jungen Frau; gleich einer Krone der Jugend lagen die goldblonden
Flechten über der klaren Stirn.--"Holdselig", dies veraltete Wort hatten
ihre Freunde für sie wieder hervorgesucht--einst, da sie noch an der
Schwelle dieses Hauses mit ihrem Lächeln die Eintretenden
begrüßte.--Und so blickte sie noch jetzt im Bilde mit ihren blauen
Kinderaugen von der Wand herab; nur um den Mund spielte ein
leichter Zug von Wehmut, den man im Leben nicht an ihr gesehen hatte.
Der Maler war auch derzeit wohl darum gescholten worden; später, da
sie gestorben, schien es allen recht zu sein.
Das kleine schwarzhaarige Mädchen kam mit leisen Schritten näher;
mit leidenschaftlicher Innigkeit hingen ihre Augen an dem schönen
Bildnis.
"Mutter, meine Mutter!" sprach sie flüsternd; doch so, als wolle mit den
Worten sie sich zu ihr drängen.
Das schöne Antlitz schaute, wie zuvor, leblos von der Wand herab; sie
aber kletterte, behend wie eine Katze, über den davor stehenden Sessel
auf den Schreibtisch und stand jetzt mit trotzig aufgeworfenen Lippen
vor dem Bilde, während ihre zitternden Hände die geraubte Rose hinter
der unteren Leiste des Goldrahmens zu befestigen suchten. Als ihr das
gelungen war, stieg sie rasch wieder zurück und wischte mit ihrem
Schnupftuch sorgsam die Spuren ihrer Füßchen von der Tischplatte.
Aber es war, als könne sie jetzt aus dem Zimmer, das sie zuvor so
scheu betreten hatte, nicht wieder fortfinden; nachdem sie schon einige
Schritte nach der Tür getan hatte, kehrte sie wieder um; das westliche
Fenster neben dem Schreibtische schien diese Anziehungskraft auf sie
zu üben.

Auch hier lag unten ein Garten, oder richtiger: eine Gartenwildnis. Der
Raum war freilich klein; denn wo das wuchernde Gebüsch sie nicht
verdeckte, war von allen Seiten die hohe Umfassungsmauer sichtbar.
An dieser, dem Fenster gegenüber, befand sich, in augenscheinlichem
Verfall, eine offene Rohrhütte; davor, von dem grünen Gespinste einer
Klematis fast bedeckt, stand noch ein Gartenstuhl. Der Hütte gegenüber
mußte einst eine Partie von hochstämmigen Rosen gewesen sein; aber
sie hingen jetzt wie verdorrte Reiser an den entfärbten Blumenstöcken,
während unter ihnen mit unzähligen Rosen bedeckte Zentifolien ihre
fallenden Blätter auf Gras und Kraut umherstreuten.
Die Kleine hatte die Arme auf die Fensterbank und das Kinn in ihre
beiden Hände gestützt und schaute mit sehnsüchtigen Augen hinab.
Drüben in der Rohrhütte flogen zwei Schwalben aus und ein; sie
mußten wohl ihr Nest darin gebaut haben. Die andern Vögel waren
schon zur Ruhe gegangen; nur ein Rotbrüstchen sang dort noch
herzhaft von dem höchsten Zweige des abgeblühten Goldregens und
sah das Kind mit seinen schwarzen Augen an.--"Nesi, wo steckst du
denn?" sagte sanft eine alte Stimme, während eine Hand sich
liebkosend auf das Haupt des Kindes legte. Die alte Dienerin war
unbemerkt hereingetreten. Das Kind wandte den Kopf und sah sie mit
einem müden Ausdruck an. "Anne", sagte es, "wenn ich nur einmal
wieder in Großmutters Garten dürfte!"
Die Alte antwortete nicht darauf; sie kniff nur die Lippen zusammen
und nickte ein paarmal wie zur Besinnung. "Komm, komm!" sagte sie
dann. "Wie siehst du aus! Gleich werden sie da sein, dein Vater und
deine neue Mutter!" Damit zog sie das Kind in ihre Arme und strich
und zupfte ihr Haar und Kleider zurecht.--"Nein, nein, Neschen! Du
darfst nicht weinen; es soll eine gute Dame sein, und schön, Nesi; du
siehst ja gern die schönen Leute!"
In diesem Augenblick tönte das Rasseln eines Wagens von der Straße
herauf. Das Kind zuckte zusammen; die Alte aber faßte es bei der Hand
und zog es
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