Ueber Goethes Hermann und Dorothea | Page 2

Victor Hehn
Aufnahme 158-159
Ort und Zeit 159
Gang der Fabel 159
Charaktere 160
Sitten und Lebenssph?re 160-161
Diktion 161-162
Vers 162-163
Andre deutsche Epen (Luise von Vo?, Messias von Klopstock) zur Vergleichung 163-164

Einleitung.
Wieder über Goethe! ruft vielleicht mancher und wirft das Buch ungeduldig beiseite. Aber was haben wir denn sonst noch Gro?es, was besitzen wir bis jetzt noch andres, nicht im Traum, sondern wahrhaft, als Goethe? Wie die Franzosen sich das Bild der Revolution, ihres Heroenzeitalters, in immer neuer Beleuchtung vorführen, so füllen wir Bibliotheken über die Literatur und vornehmlich über deren gr??te Gestalt, den einzigen wirklichen Dichter, der uns zu teil geworden. Jch bringe meinen Beitrag zu den vielen andern. Der fromme Beter, aus dem Tempel tretend, pflanzt dankbar auch sein B?umchen, so da? im Lauf der Jahre ein immer herrlicherer Hain das Heiligtum umrauscht.
Noch ist die Arbeit, Goethe in das Bewu?tsein der Nation einzuführen, lange nicht vollendet. Wer die herrschende Bildung beobachtet hat, mu? gestehen, da? die gro?e Mehrzahl gar nicht ahnt, wieviel sie an Goethe besitzt. Seine Dichtungen sind berühmt und von allen gekannt, genossen und empfunden sind sie nur von wenigen. Sinn für Poesie ist überhaupt nicht weiter verbreitet als Talent z. B. für Mathematik. Die meisten haften an dem falschen Golde rhetorischen Schmuckes, werden kindisch gelockt von den Flittern der Diktion und, wenn es sich um Gestalten handelt, nur durch abstrakte Idealit?t berührt und fortgerissen. Selbst unter denen, die als Goethes Ausleger aufgetreten sind, haben sich nicht alle durch das Entzücken des poetischen Genusses und das Streben, auch andre daran teilnehmen zu lassen, zu ihrem Amte berufen geglaubt, sondern wurden vielmehr durch schulphilosophische Bedürfnisse, religi?se, politische, soziale Standpunkte, also mehr durch ein scholastisches und praktisches Interesse dazu geführt. Sie suchten an jenen Dichtungen die Gelegenheit, sie dr?ngten sich den Inhalt schon mitbringend an sie heran, statt in unbefangener Hingabe die sch?ne Menschlichkeit und reine Darstellung auf sich wirken zu lassen und der Empfindung andrer n?her zu bringen. So ist in den zahlreichen Schriften über Faust zwar jedes Wort, das in des Helden Monologen, in den Gespr?chen mit Mephistopheles und Wagner ausgesprochen wird, zu einem heiligen Text geworden, zu dem die Noten und Exkurse sich h?uften und welcher zu aller Art von Schriften und Verhandlungen Sprüche liefert, aber die wundervollen Szenen zwischen Faust und Gretchen, die Blüte des Werkes, wo die volle dichterische Sch?pfungsmacht das ergreifendste individuelle Bild von Lieb und Leid des Menschenlebens vor uns hinwirft, bilden wei?e Seiten, bei denen die gesch?ftige Interpretation schweigt. Wenn es R?tscher über sich vermag, bei Gretchens Gestalt und über sie hinweg an Unschuld, Fall und Erl?sung des Menschengeschlechts, die durch sie dargestellt werden, zu denken, so müssen wir an seinem poetischen Sinne ebenso sehr zweifeln, als wenn Viehoff in seinem neusten Kommentar zu Goethes Gedichten die Sch?nheit derselben in Z?sur und Alliteration, iambischem und troch?ischem Rhythmus, in das Vorherrschen dieses und jenes Vokals u. s. w. setzt. So findet Karl Grün die volle Bedeutung des Goetheschen Geistes in Wilhelm Meisters Wanderjahren, im zweiten Teil des Faust u. s. w., w?hrend z. B. Hermann und Dorothea von ihm kaum berührt wird. Auch ihm also liegt die soziale Wahrheit n?her am Herzen als die poetische Kunst: er kann gleichgültig vorübergehen, wo die letztere unwiderstehlich fesselt; er kann liebevoll verweilen, wo sie erloschen ist. Sind so die Ausleger nicht immer das Organ reiner Freude an der Gegenwart der Poesie geworden, so findet man unter der gro?en Menge der Leser und Urteiler überwundene Meinungen und l?ngst verlassene Standpunkte noch so sehr in vollem Bestand, da? es fortw?hrend not thut, die in engerem Kreise gewonnene ?sthetische Einsicht von neuem vorzutragen. Der moralisch-didaktische Gesichtspunkt einem Dichterwerk gegenüber, die religi?sen Abstraktionen, der Dualismus zwischen Sinnlichem und Uebersinnlichem, Leib und Seele, Irdischem und Himmlischem, der alle Kunst bis zur Wurzel zerst?rt, die Flucht aus der vollen Wirklichkeit der Natur und des Lebens, das Unverm?gen, in der ersteren den innerlich bildenden Geist, in den Gestalten des letzteren die sie hervortreibende und beseelende Sittlichkeit zu empfinden -- dies alles ist in der gro?en Masse der Gebildeten noch so wenig erschüttert, da? es noch vieler und wiederholter Anwendung der Wahrheit auf einzelne Punkte bedarf, ehe sie sich des Sieges wird rühmen dürfen.
Unter den Goetheschen Dichtungen hat übrigens Hermann und Dorothea verh?ltnism??ig nur wenig von sich reden gemacht. Voll klarer Einsicht in das Wesen des homerischen Epos ist die gleich nach Erscheinen des Goetheschen Werkes verfa?te Rezension von August Wilhelm Schlegel. Geistvolle Bemerkungen enth?lt ein Aufsatz über Hermann und Dorothea von Yxem, den wir, wie billig, für unsre Darstellung benutzt haben. Nur geringe Belehrung haben wir in Wilhelm von Humboldts Schrift über Hermann und Dorothea gefunden, die schon im Jahre 1799 als erster und einziger Teil der ?sthetischen Versuche erschien. Die Darstellung h?lt sich in blut- und markloser Abstraktion, von deren H?he das lebendige poetische Individuum ganz aus dem Gesicht verschwindet, und l?st man den jedesmaligen Gedanken aus
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