er in Abenteuer des Fleisches, stieg tief hinab in
Wollust und heiße Schuld und litt unsäglich dabei. Vielleicht war es
das Erbteil seines Vaters in ihm, des langen, sinnenden, reinlich
gekleideten Mannes mit der Feldblume im Knopfloch, das ihn dort
unten so leiden machte und manchmal eine schwache, sehnsüchtige
Erinnerung in ihm sich regen ließ an eine Lust der Seele, die einstmals
sein eigen gewesen war, und die er in allen Lüsten nicht wiederfand.
Ein Ekel und Haß gegen die Sinne erfaßte ihn und ein Lechzen nach
Reinheit und wohlanständigem Frieden, während er doch die Luft der
Kunst atmete, die laue und süße, duftgeschwängerte Luft eines
beständigen Frühlings, in der es treibt und braut und keimt in
heimlicher Zeugungswonne. So kam es nur dahin, daß er, haltlos
zwischen krassen Extremen, zwischen eisiger Geistigkeit und
verzehrender Sinnenglut hin und her geworfen, unter Gewissensnöten
ein erschöpfendes Leben führte, ein ausbündiges, ausschweifendes und
außerordentliches Leben, das er, Tonio Kröger, im Grunde
verabscheute. Welch Irrgang! dachte er zuweilen. Wie war es nur
möglich, daß ich in alle diese exzentrischen Abenteuer geriet? Ich bin
doch kein Zigeuner im grünen Wagen, von Hause aus...
Aber in dem Maße, wie seine Gesundheit geschwächt ward, verschärfte
sich seine Künstlerschaft, ward wählerisch, erlesen, kostbar, fein,
reizbar gegen das Banale und aufs höchste empfindlich in Fragen des
Taktes und Geschmacks. Als er zum ersten Male hervortrat, wurde
unter denen, die es anging, viel Beifall und Freude laut, denn es war ein
wertvoll gearbeitetes Ding, was er geliefert hatte, voll Humor und
Kenntnis des Leidens. Und schnell ward sein Name, derselbe, mit dem
ihn einst seine Lehrer scheltend gerufen hatten, derselbe, mit dem er
seine ersten Reime an den Walnußbaum, den Springbrunnen und das
Meer unterzeichnet hatte, dieser aus Süd und Nord zusammengesetzte
Klang, dieser exotisch angehauchte Bürgersname zu einer Formel, die
Vortreffliches bezeichnete; denn der schmerzlichen Gründlichkeit
seiner Erfahrungen gesellte sich ein seltener, zäh ausharrender und
ehrsüchtiger Fleiß, der im Kampf mit der wählerischen Reizbarkeit
seines Geschmacks unter heftigen Qualen ungewöhnliche Werke
entstehen ließ.
Er arbeitete nicht wie jemand, der arbeitet, um zu leben, sondern wie
einer, der nichts will als arbeiten, weil er sich als lebendigen Menschen
für nichts achtet, nur als Schaffender in Betracht zu kommen wünscht
und im übrigen grau und unauffällig umhergeht, wie ein
abgeschminkter Schauspieler, der nichts ist, solange er nichts
darzustellen hat. Er arbeitete stumm, abgeschlossen, unsichtbar und
voller Verachtung für jene Kleinen, denen das Talent ein geselliger
Schmuck war, die, ob sie nun arm oder reich waren, wild und
abgerissen einhergingen oder mit persönlichen Krawatten Luxus
trieben, in erster Linie glücklich, liebenswürdig und künstlerisch zu
leben bedacht waren, unwissend darüber, daß gute Werke nur unter
dem Druck eines schlimmen Lebens entstehen, daß, wer lebt, nicht
arbeitet, und daß man gestorben sein muß, um ganz ein Schaffender zu
sein.
IV
»Störe ich?« fragte Tonio Kröger auf der Schwelle des Ateliers. Er hielt
seinen Hut in der Hand und verbeugte sich sogar ein wenig, obgleich
Lisaweta Iwanowna seine Freundin war, der er alles sagte.
»Erbarmen Sie sich, Tonio Kröger, und kommen Sie ohne Zeremonien
hinein!« antwortete sie mit ihrer hüpfenden Betonung. »Es ist bekannt,
daß Sie eine gute Kinderstube genossen haben und wissen, was sich
schickt.« Dabei steckte sie ihren Pinsel zu der Palette in die linke Hand,
reichte ihm die rechte und blickte ihm lachend und kopfschüttelnd ins
Gesicht.
»Ja, aber Sie arbeiten«, sagte er. »Lassen Sie sehen... Oh, Sie sind
vorwärtsgekommen.« Und er betrachtete abwechselnd die farbigen
Skizzen, die zu beiden Seiten der Staffelei auf Stühlen lehnten, und die
große, mit einem quadratischen Liniennetz überzogene Leinwand, auf
welcher, in dem verworrenen und schemenhaften Kohleentwurf, die
ersten Farbflecke aufzutauchen begannen.
Es war in München, in einem Rückgebäude der Schellingstraße,
mehrere Stiegen hoch. Draußen, hinter dem breiten Nordlicht-Fenster,
herrschte Himmelsblau, Vogelgezwitscher und Sonnenschein, und des
Frühlings junger, süßer Atem, der durch eine offene Klappe
hereinströmte, vermischte sich mit dem Geruch von Fixativ und
Ölfarbe, der den weiten Arbeitsraum erfüllte. Ungehindert überflutete
das goldige Licht des hellen Nachmittags die weitläufige Kahlheit des
Ateliers, beschien freimütig den ein wenig schadhaften Fußboden, den
rohen, mit Fläschchen, Tuben und Pinseln bedeckten Tisch unterm
Fenster und die ungerahmten Studien an den untapezierten Wänden,
beschien den Wandschirm aus rissiger Seide, der in der Nähe der Tür
einen kleinen, stilvoll möblierten Wohn- und Mußewinkel begrenzte,
beschien das werdende Werk auf der Staffelei und davor die Malerin
und den Dichter.
Sie mochte etwa so alt sein wie er, nämlich ein wenig jenseits der
Dreißig. In ihrem dunkelblauen, fleckigen Schürzenkleide saß sie auf
einem niedrigen Schemel und stützte das Kinn in die Hand. Ihr braunes
Haar, fest frisiert und an den Seiten schon leicht ergraut, bedeckte in
leisen Scheitelwellen ihre Schläfen und gab den Rahmen zu ihrem
brünetten, slawisch geformten, unendlich sympathischen Gesicht mit
der Stumpfnase, den scharf herausgearbeiteten Wangenknochen und
den kleinen, schwarzen, blanken
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